Inzwischen habe ich fast alle CAD-Systeme zumindest einige Tage anfassen dürfen, nur die „ganz dicken Eisen“ NX und Catia fehlten noch auf meiner Liste. High-End-Systeme sind ein Spezialfall, weil die CAD-Modellierung ja nur ein kleiner Ausschnitt der tatsächlichen Funktionalität dieser Systeme ist. Nichtsdestotrotz konnte ich zwei Wochen lang die 3DExperience-Plattform von Dassault testen, zu der unter anderem Catia zählt.
Die allererste Frage, die man stellen muss, ist die, ob ein solches System, das ja eigentlich nur in einer komplexen PLM- beziehungsweise Entwicklungsumgebung richtig zur Entfaltung kommt, überhaupt sinnvoll in wenigen Tagen zu testen ist. Die Antwort ist ganz klar: Nein. Ich kann lediglich versuchen, meine Eindrücke zu schildern, die ich in zwei Wochen gewonnen habe. Deshalb habe ich mich vor allem auf die Catia-Einbindung konzentriert, eine ausführliche Beschreibungen der Cloud-Funktionen und der neuen Möglichkeiten der Collaboration, die sich daraus ergeben, werde ich in einem zweiten Artikel nachliefern.
3DExperience – die Klammer um die Produktentwicklung
Als Zweites ist es Zeit für eine Begriffsklärung – was ist überhaupt die 3DExperience, ist das Catia, Enovia, V6, V7? Alles und keines davon, sozusagen. Die 3DExperience ist eine Cloud-Applikation, die auf den Servern von Dassault Systèmes läuft – es ist auch möglich, das Ganze als Private-Cloud-Lösung zu installieren – und die eine Klammer über die vielen Lösungen des Dassault-Portfolios bildet. Zu der 3DExperience-Lösung On the Cloud, wie ich sie getestet habe, gehört eine Enovia-Instanz, die erzeugten Daten landen also in der Cloud. Ansonsten ist das System schnell in Betrieb genommen – sobald man das erste Mal seinen Account nutzt, werden verschiedene Dinge eingerichtet und das 3DExperience-Dashboard gestartet. Klickt man zum ersten Mal eines der Catia-Logos an, wird Software auf dem lokalen Rechner installiert, Catia läuft also „hybrid“ in der Cloud und lokal. So lassen sich die Vorteile beider Welten nutzen, die Geschwindigkeit der lokalen Software und die Datenverwaltung in der Cloud.
Auf zwei Dingen basiert die Bedienungsphilosophie der 3DExperience: Dem gleichnamigen Kompass und einem Rollenkonzept. Der Kompass dient in allen Applikationen, also sowohl dem lokal laufenden Catia als auch den im Browser startenden Enoviafunktionen, zur Auswahl der gewünschten App-Gruppe. Interessant ist dabei, dass geladene Teile oder Baugruppen mit zur anderen Applikation wandern. So kann man beispielsweise vom Part Design sein Bauteil ins 3D-Printing-Modul „mitnehmen“ – der App-Wechsel ist im Prinzip nur an der anderen Werkzeugleiste am unteren Bildschirmrand zu erkennen.
Klickt man einen der vier Quadranten des Kompass an, so öffnet sich darunter eine Leiste mit den Rollen und den Funktionen des jeweiligen Bereichs. Dassault hat seine Produktpalette in sehr viele Funktionspakete beziehungsweise Apps aufgesplittet und diese Pakete Arbeitsabläufen – beziehungsweise Rollen – zugeordnet. So gibt es die Rolle Mechanical Designer, die vor allem Apps aus dem Bereich CAD zur Verfügung hat, oder auch der Mechanical Analyst, dessen Paket weniger Catia-Funktionspakete enthält, aber dazu noch Abaqus-Funktionalität. Einer Person lassen sich auch mehrere Rollen zuordnen, die Rollen lassen sich an- und abschalten, so dass die Liste „Meine Apps“ nicht allzu stark ausufert. Der Inhalt der App-Liste ist zusätzlich davon abhängig, welche Lizenzen der Anwender besitzt.
Das Rollenkonzept erlaubt es sowohl Dassault als auch dem Unternehmen, das die Software nutzt, die Funktionen der Dassault-Produktpalette sehr sauber auf die Anforderungen jeden Arbeitsplatzes zuzuschneiden. Dassault Systèmes-CEO Bernard Charles erklärte es einmal so, dass mehrere Rollen einen Prozess ergeben und mehrere Prozesse eine Industry Solution. Hier zeigt sich übrigens auch, was gemeint ist, wenn Dassault nicht mehr über Produkte, sondern nur noch über Lösungen sprechen möchte: Es gibt eben kein monolithisches Catia mehr, sondern eine Vielzahl von Funktionsbündeln beziehungsweise Apps – Teilemodellierung, Baugruppen, Blechkonstruktion, funktionale Teile, Wireframe und Flächen und so weiter – die von Dassault so zusammengesetzt werden, dass die Sammlung einen bestimmten Prozess – mechanische Konstruktion, technische Freigabe, Simulationsvorbereitung – optimal unterstützt. Und diese letztgenannte Rolle enthält dann eben noch Simulia-Pakete und andere. Eine Rolle oder ein Prozess beschränkt sich einerseits nicht auf Catia oder Simulia oder ein anderes Produkt, andererseits sind nicht alle Catia-Apps in einer Rolle enthalten. Insgesamt bietet Dassault heute 12 Industrielösungen mit 68 Prozessen an.
Die Catia-Oberfläche ist in der 3DExperience an deren Look-and-Feel angepasst, man arbeitet praktisch nur mit der Werkzeugleiste unten und den Maustasten. 3D-Mäuse werden natürlich auch unterstützt. Eine Menüleiste am oberen Fensterrand fehlt, hier finden sich nur Reiter, mit denen zwischen mehreren Bauteilen umgeschaltet werden kann.
Dateien? In der 3DExperience (fast) ausgestorben.
Das Öffnen von Dateien funktioniert in einer solchen integrierten Umgebung nicht wie gewohnt per „Datei-Öffnen“-Dialog, es existieren ja keine herkömmlichen Dateien mehr. Man wählt also in der 3DExperience-Oberfläche den Product Finder aus, in dem sich dann das gewünschte Modell auswählen lässt. Das Modell erscheint auf dem Dassault-typischen Drehteller, per „Öffnen“-Button wechselt man dann in die gewünschte App, um das Modell zu bearbeiten.
Catia hat einen, für den SolidWorks-Nutzer ungewöhnlichen, Strukturbaum, der oben mit dem „Physischen Produkt“ beginnt, mit einer oder mehreren 3D-Formen weitergeht und dann erst auf die 3D-Geometrie verzweigt. Der Baum ist also immer ein Baugruppenbaum, was irgendwie mindestens so viel Sinn macht wie die unterschiedlichen Bäume in anderen Systemen.
Mit der Modellierung in Catia Part Design bin ich nach kurzer Zeit gut zurechtgekommen. Parametrische Modellierung mit Skizzen und Extrusionen, wie auch in SolidWorks oder Creo. Allerdings fand ich die Vergabe von Beziehungen etwas ungewöhnlich – andere Systeme erkennen bestimmte Eigenschaften wie Tangentialität und Parallelität, horizontal oder vertikal selbsttätig, in Catia müssen diese manuell vergeben werden. Ob nun das manuelle Vergeben der Beziehungen oder das Löschen unerwünschter, automatisch vergebener Parameter mehr Arbeit macht, muss jeder für sich entscheiden.
Sehr angenehm ist es, dass Dassault es geschafft hat, die Komplexität des Systems zu verbergen, indem die Dialoge „mehrstufig“ gestaltet wurden. Man muss, wenn man beispielsweise eine komplexe Verrundung modellieren möchte, erst einen „mehr…“-Button drücken, um alle Einstellmöglichkeiten zu sehen. Für einfache Verrundungen – und das geht bis zu variablen Übergängen zwischen zwei Radien – reicht der Grunddialog.
Ansonsten war die „3D-Erfahrung“ mit der 3DExperience sehr interessant. An vielen Stellen ist das System sicher nicht so selbsterklärend wie ein Midrangesystem, aber wir sprechen hier ja auch nicht von einem „nackten“ Modellierer, sondern einer integrierten Entwicklungsumgebung, die in einer „Default“-Installation ohne jegliche Anpassung, wie ich sie zur Verfügung hatte, kaum wirklich zu beurteilen ist. Zudem wird eine solche Installation nicht ohne eine genaue Einweisung der User in Betrieb genommen.
An einigen Stellen jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass die Verzahnung von Web- und lokaler Applikation noch nicht so eng ist wie man es sich vorstellen könnte. So wollte ich intuitiv Modelle aus der Common Space-Ansicht der 3DExperience auf ein App-Icon verschieben, um das Teil in die App zu laden – das geht natürlich nicht. Aber das sind typische Fehlinterpretationen, die eine Schulung schnell ausräumen würde.
Im Modellierbereich dagegen hat man schnell ein vertrautes Gefühl – mit dem guten Gefühl, hinter dem „Expertenbutton“ noch richtig viele Optionen zur Verfügung zu haben. Grenzen bei der Modellierung dürften jedenfalls schwer zu finden sein. Über die Jahre ist auch Catia immer besser bedienbar und intuitiver geworden.