[Update am Ende des Artikels]
Soziale Medien sind Produktivitätskiller: Letzte Woche wurde bekannt, dass das schlechte Abschneiden der erfolgsgewohnten australischen Schwimmnationalmannschaft von einer Beratungsfirma unter anderem auf die übermäßige Nutzung von Twitter und Facebook zurückgeführt wird.
Das hört sich zunächst nach dem üblichen Social Media-Bashing an, es werden aber auf der zweiten Seite des Artikels der Süddeutschen einige interessante Zitate aus der Studie genannt: So war ein Problem, dass die Athleten, statt sich abgeschirmt auf die Wettkämpfe zu konzentrieren, über die sozialen Medien ungefiltert von positiven wie negativen Emotionen überschwemmt wurden. Dies habe Ruhe und Konzentration gestört.
Social Media sind die Zukunft der Produktentwicklung: Was bedeutet es eigentlich, wenn die „Generation Facebook“ ins Berufsleben eintritt? Das war das Thema eines Vortrags von Cimdata-Präsident Peter Bilello beim PI Congress letzte Woche Siehe auch unseren Bericht). Er identifizierte eine ganze Reihe von Verhaltensweisen und Technologien, die die aktuell ins Berufsleben tretende Generation kennzeichnet:
- Geboren in den 1990ern
- Sie nutzen E-Mail nur noch, um mit ihren Professoren zu kommunizieren
- Sie nutzen Facebook und Twitter zur Kommunikation und sind „radically connected“
- Sie senden ihren Eltern lieber eine SMS als mit ihnen zu telefonieren
- Sie wissen nicht, wie man ein kabelgebundenes Telefon installiert
- Sie hören kein Radio, sie streamen TV online
- Sie gehen nicht ins Internet, sie leben im Internet
- Informationen laufen in kurzen Schüben, nicht kontinuierlich
- Mehrere Dinge werden parallel erledigt
- Ad-hoc-Vernetzung für bestimmte Projekte
- Sie erwarten, radikal vernetzt zu sein!
Neben den Social Media bestimmen die Maker-Bewegung (der Ansatz, mit modernen Technologien wie 3D-Druck Dinge selbst herzustellen oder zu reparieren), Consumerization of IT und BYOD (Übernahme von Consumertechnologie wie Apps, Bring Your own Device, Nutzung privater Smartphones/Tablets bei der Arbeit) und Design Centric Culture (in der der Designer viel enger als bisher in der Entwicklung mitarbeitet, um schöne, gut bedienbare Produkte zu erhalten) die nächste Revolution, wie Bilello sie sieht.
Zwei Entwicklungen, die Bilello nicht nannte, sind Crowdsourcing-Portale wie Kickstarter und „Social Development“-Portale wie Quirky. Hat man eine Produktidee, kann man auf Kickstarter Investoren sammeln – wobei es hier nicht um Investment im klassischen Sinne geht, sondern es kann auch mit Kleinstbeträgen teilgenommen werden. Quirky setzt einen Schritt früher an: Man veröffentlicht eine Idee und die „Community“ hilft bei der Umsetzung in ein reales Produkt. Per Abstimmung wird festgelegt, welches Produkt tatsächlich gefertigt werden soll, und Quirky selbst übernimmt dann Produktion und Vertrieb. Die „Mitarbeiter“ werden entsprechend ihrem Anteil an der Entwicklung am Gewinn beteiligt.
Auch die CAD/PLM-Anbieter springen auf den „Social“-Zug auf, PTC hat mit Windchill Social Link eine Communitylösung im Angebot, Autodesk ist mit 360 auf dem Weg zum cloudbasierten Zusammenarbeiten. Auf der SolidWorks World zeigte das Unternehmen Mechanical Conceptual, das Kommentarfunktionen enthält, und der Mutterkonzern Dassault Systèmes ist schon seit Jahren mit seiner 3DExperience-Philosophie in Richtung Crowdsourcing unterwegs. Auch Siemens PLM Software hat in Teamcenter ein Community Collaboration-Modul implementiert.
Jim Brown von Techclarity hat in einer Präsentation eine interessante Gegenüberstellung von Social-Funktionen und der Nutzungsmöglichkeit in Privat- und Berufsleben erstellt:
Die bei der PLM Connection 2010 in Dallas gehaltene Präsentation enthält das Zitat eines Boeing-Mitarbeiters, der auf einer anderen Veranstaltung sagte: „Wir werden niemals ein Flugzeug auf Facebook entwickeln“. Das ist natürlich richtig, Facebook ist die falsche Basis für einen Produktentwicklungsprozess – aber die typischen Funktionen sozialer Netzwerke können, wie Browns Gegenüberstellung zeigt, durchaus einen Nutzen bringen.
In dieser „neuen Welt“ vernetzen sich Mitarbeiter informell und bringen beispielsweise über eine Chat- oder Kommentarfunktionen ihre Ideen und Anmerkungen ein, Applikationen werden nicht gekauft und installiert, sondern bei Bedarf heruntergeladen oder gleich im Browser genutzt, Abrechnung erfolgt nach Nutzungsdauer. Entscheidungen fallen unter Teilhabe aller.
Am zweiten Tag brachte Dr. Martin Eigner einen wichtigen Einwurf. Nach seinem Vortrag wurde er aus dem Publikum zu seiner Meinung zum „Social“-Ansatz gefragt, er zeigte sich sehr skeptisch, alleine weil die hierarchische Struktur aktueller Unternehmen einer Teilhabe-Kultur, in der alle mitreden und –entscheiden können, diametral entgegensteht.
Es ist abzuwarten, ob sich diese hierarchischen Strukturen unter dem Druck der nächsten Ingenieursgeneration halten lassen. Zwei aktuell laufende „Großexperimente“ lassen mich – bei aller Sympathie für Soziale Netzwerke, die ich ausgiebig und gerne auch geschäftlich nutze – skeptisch zurück:
- Die sogenannten Facebook-Revolutionen im Nahen Osten: Die Proteste in Tunesien, Libyen, Ägypten und anderen Ländern wurden per Twitter und Facebook organisiert, derzeit sind aber jeweils die straff organisierten Muslimbrüder oder ähnliche Gruppierungen an den Hebeln der Macht, die Jugendlichen, die die Revolutionen gestartet haben, sind in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht.
- Die Piratenpartei hat sich radikale Offenheit und Teilhabe verschrieben und zu Beginn große Erfolge gefeiert. Inzwischen versinkt die Partei in persönlichen Fehden, Uneinigkeit und fehlendem Profil.
Beide Beispiele zeigen: Es ist in sozialen Strukturen sehr einfach, sich zu engagieren, einen „Gefällt mir“-Knopf zu drücken oder sich einer Gruppe anzuschließen. Hat man aber erst einmal ein Zwischenziel erreicht – die Ablösung des Diktators, den Einzug in ein Landesparlament – dann beginnen die berühmten brechtschen „Mühen der Ebene“: Der Aufbau eines neuen Staats, die Arbeit in der realen Politik mit ihren Sachzwängen. Ähnlich ist es im Produktentstehungsprozess, nach der ersten, stürmischen Entwicklungsphase beginnt der Teil, der früher Detaillierung genannt wurde und ebenso mühsam ist: Das Modellieren aller Teile und Baugruppen unter Einhaltung von Normen, Regeln und Gesetzen, das Auslegen und die Suche nach der kostengünstigsten Lösung. In diesem Prozess sind feste, definierte Workflows nach wie vor optimal. Hier wird an einmal getroffenen Entscheidungen festgehalten, zu viel „Kommentieren von außen“ stört – wie im Falle der australischen Schwimmerinnen – in dieser Phase eher als sie hilft.
Am Ende wird es wohl – wie immer im Leben – auf einen Kompromiss hinauslaufen: Die Vorteile der neuen Technologien werden dort genutzt, wo sie Vorteile haben und an die bewährten Workflows angebunden werden. Bleiben wir gespannt!
[Update]
Ex-SpaceClaim-Mitgründer hat in einem Aprilscherz-Video schon 2009 eine SpaceClaim-Versioon mit Twitter-Anschluss vorgestellt. das Video hat einen wahren Kern: Blake kann zwischendurch nicht weitzersprechen, da er von den hereinkommenden Tweets abgelenkt wird. Soviel zum Thema Produktivitätskiller.
RT @KCADCAM_Blog: Neu im :K CAD CAM-Blog: Kommt die Facebook-Revolution in der Produktentwicklung?: http://t.co/mCAqiNtPrX
Social Media sind für Entwicklungsprojekte oft nützlich, um neue Konzepte anhand gemachter Erfahrungen zu bewerten. Um neue Ideen zu gewinnen, gibt es wesentlich effektivere Ansätze. Z.B.: http://www.solidcreativity.de/innovations-management/die-asit-methode/