Seit Ende letzten Jahres habe ich Zugang zur Betaversion von Onshape, erst jetzt darf ich darüber ausführlich reden. Die Erwartungen waren hoch – hatte SolidWorks-Erfinder Jon Hirschtick doch eine illustre Truppe von SolidWorks- und anderen CAD-Urgesteinen versammelt. Hinzu kam – was zumindest bei mir von Anfang an großes Interesse weckte – eine ganze Reihe profilierter Spezialisten aus dem Cloud-Bereich. Bisher beleuchtete ich eher allgemein verschiedene Onshape-Aspekte, genau mit dem Ende der Sperrfrist kommen hier nun meine ersten Eindrücke und Gedanken zu diesem neuen Cloud-CAD-System.
Man muss sich in diese Zeit 1995/96 zurückversetzen. auf Desktop-Rechnern lief Windows 95, Windows NT hatte sich mit Version 3.51 als Profi-System gerade so etabliert. Die großen CAD-Hersteller PTC, Dassault Systèmes und Unigraphics – heute Siemens PLM Software – ließen ihre Systeme auf diversen UNIX-Versionen laufen und es gab einige halbherzige Windows-Portierungen dieser Pakete. Diese Portierung zeichneten sich vor allem durch Ignorieren sämtlicher Windows-Bedienungskonzepte aus, es bot sich nach dem Start eine UNIX-Oberfläche im Windows-Fenster. Am anderen Ende der Skala lag AutoCAD, das unter Windows lief, aber im Fenster auch noch sehr nach DOS aussah.
Mit SolidWorks und dem ziemlich gleichzeitig präsentierten Solid Edge kamen damals die ersten echten Windows-CAD-Systeme auf den Markt, die von Grund auf unter dem Microsoft-Betriebssystem entwickelt worden waren. Sie eroberten sich schnell einen festen Platz im Markt und die bestehenden Systeme sahen auf einmal alt aus – bis die Hersteller nachzogen. Hirschtick traf mit SolidWorks damals einen „Sweet Spot“, technisch, aber vor allem zeitlich. Es war schon recht gut sichtbar, dass die Windows-Schiene die Zukunft ist, aber die etablierten Hersteller scheuten die Investition für eine komplette Neuimplementierung – die UNIX-Versionen liefen ja auch noch gut, sowohl in technischer als auch in kommerzieller Hinsicht.
SolidWorks konnte mit vollem Schwung, ohne Rücksicht auf Altlasten, in ein sich öffnendes, neues Marktsegment starten. Mit Onshape möchte Hirschtick, so wie ich ihn in unseren Gesprächen verstanden habe, genau diese Strategie wiederholen: Ohne Ballast in den neuen Markt der Online-CAD-Systeme starten.
Auf den ersten Blick sehr vertraut
Und die Beta, die ab jetzt frei zugänglich ist, ist sehr vielversprechend. In der Modellierumgebung erinnert nur die nicht funktionierende SpaceMouse daran, dass es sich nicht um ein lokal, sondern um ein im Browser laufendes System handelt. Am Modellieren fällt am meisten auf, dass eigentlich alles so ist, wie man es kennt, wenn man ein parametrisches, historiebasiertes System gewohnt ist. Der Betastatus von Onshape zeigt sich an einigen Stellen, beispielsweise an einer noch fehlenden Symmetriebeziehung. Nichtdestotrotz findet man sich innerhalb von Minuten in die Bedienung ein. Das System nutzt den Parasolid-Kernel, auch das eine Parallele zu SolidWorks.
Onshape bietet alle drei Grundfunktionen – Einzelteilkonstruktion, Baugruppendefinition und Zeichnungserstellung. Baugruppen lassen sich unter Berücksichtigung der vorgegebenen Freiheitsgrade bewegen, das sieht schon recht schön aus. Man darf nicht vergessen, dass die verfügbare Lösung lediglich eine Betaversion ist. Dank der Cloud kamen in der geschlossenen Betaphase jede Woche neue Funktionen hinzu – man muss ja kein Update installieren, die neuen Features sind beim nächsten Einloggen einfach da.
Die wirklichen Neuerungen liegen in den Cloudtypischen Funktionen: Man speichert nicht, sondern erstellt einfach ein neues Teil, das in der Cloud gespeichert wird. Hirschtick nannte das Arbeiten in global verteilten Teams als einen der wichtigsten Trend in der Produktentwicklung, der sich mit Hilfe der Cloud optimal adressieren lässt – die Daten liegen eben nicht mehr irgendwo lokal, sondern überall verfügbar in der Cloud. Das Thema Mobile räumt Onshape damit im Vorbeigehen ab: Da das System im Browser läuft, läuft es auf jedem internetfähigen Mobilgerät. Und eine Onshape-App soll ebenfalls erscheinen und noch mehr Performance bringen.
Ein weiteres Merkmal der Abwendung von der Datei ist die eingebaute Versionierung – das System merkt sich jeden einzelnen Zwischenstand, der Anwender jederzeit einen Stand als „wichtige Version“ definieren. Diese Stände lassen sich benutzen, um einen neuen Zweig zu erstellen. So können zwei Kollegen an zwei Alternativen einer Lösung parallel arbeiten. Am Ende lassen sich die Zweige wieder zusammenführen und eine gemeinsame Version erstellen. Branching beziehungsweise Forking und Merging wie in der Softwareentwicklung – sehr interessant.
Onshape macht PDM (zum Teil) überflüssig
Datenverwaltung, Versionierung, Zugriffsrechte – ein bedeutender Teil der Funktionalität, die man typischerweise in PDM-Systemen findet, ist in Onshape integriert beziehungsweise aufgrund der Cloud-Philosophie überflüssig. Onshape hat sogar eine ausgeklügelte Funktionalität, die Collaboration beziehungsweise gemeinsames Arbeiten an einem Teil ermöglicht.
Das Kostenmodell ist sehr interessant: Ein Account kostet 100 Dollar pro Monat. Daneben existiert ein kostenloses Angebot, das den vollen Funktionsumfang bietet, aber auf fünf aktive Dokumente beschränkt ist. Man kann Dokumente jederzeit aktiv beziehungsweise inaktiv schalten, so dass man auch in der freien Lizenz unendlich viele Dokumente verwalten kann, aber eben immer nur fünf davon aktiv sein können. Das dürfte in Zusammenbauten problematisch werden, wenn man viele Teile gleichzeitig bearbeitet. Nichtdestotrotz gibt der kostenlose Account einen guten Überblick über das System.
Mit 50 Mitarbeitern und einem Venture-Kapital von 64 Millionen Dollar zeigen Hirschtick und seine Kollegen, dass man es ernst meint mit Onshape. Mein Einwand, dass CAD heute nicht mehr genug ist, sondern Entwicklungsumgebungen weit über die eigentliche Modellierung hinausgehen sowie eng in Unternehmensprozesse eingebunden sind, konterte Hirschtick mit dem Verweis auf ein Partnerprogramm, das man sehr schnell aufbauen werde.
Letzteres ist meinem Gefühl nach ist dies die größte Klippe, die Onshape überwinden muss – und die den heutigen Zeitpunkt eben doch sehr von 1995 unterscheidet: CAD-Modellierung ist heute kein eigenes Spezialistengebiet mehr, sondern einfach ein – sicher wichtiger – Teil des Produktentstehungsprozesses. Man erinnere sich an SpaceClaim, auch dieser Modellierer ist mit großen Vorschusslorbeeren gestartet und brachte mit seiner extrem einfachen direkten Modellierung einen neuen Aspekt in den Markt. Trotzdem konnte sich SpaceClaim nie wirklich als Hauptsystem etablieren, es wurde und wird in vielen Unternehmen als Zusatzlösung für bestimmte Probleme eingesetzt, die das „Hauptsystem“ nicht abdeckt.
Mit der Cloudphilosophie, die Onshape wohl so konsequent wie kein anderes System vertritt, hat man ein Alleinstellungsmerkmal das sicher weiter trägt als Spaceclaims Modellierungstechnologie. Ich bin sehr gespannt, wo das System in fünf Jahren steht. Schauen Sie sich Onshape hier selbst an!
Nachtrag um 17:30: Autodesk-CEO Carl Bass hat, wie man sich denken kann, eine eigene Meinung zu Onshape, die er hier erläutert. Er hat Recht: Wenn Onshape behauptet, das erste Cloud-System auf dem Markt zu haben, ist das nicht richtig. Allerdings arbeitet Fusion 360, soweit ich mich erinnere, nach wie vor mit Dateien und wird lokal installiert. Letzeres ist übrigens ein wichtiger Nachteil von Onshape: Kein Internet, kein CAD. Bisher hat das System keinerlei Offline-Funktionalität. Aber wenn man neu auf den Markt kommt, muss man auch mal radikal sein.
Nachtrag 2, 10.03.2015, 10:00 Uhr: Einen lesenswerten Artikel zu Onshape, der Zukunft von CAD und dem Einfluss von Onshape und Fusion 360 auf die Preis- und Lizenzgestaltung in diesem Bereich hat mein Kollege Adam O’Hern auf SolidSmack veröffentlicht (englisch). Der Artikel ist nicht nur sehr lustig, sondern auch ein großes Plädoyer für CAD in der Cloud.