Simulationsevents sind für einen Journalisten hart, der Versuch, den oft extrem technisch/mathematisch geprägten Vorträgen zu folgen, ist meist zum Scheitern verurteilt. Nichtsdestotrotz habe ich einige interessante Erkenntnisse von der Simulia Community Conference in Berlin zurückgebracht. Im Simulationsbereich ist einiges im Umbruch.
Dassault Systèmes hat in den letzten Jahren sein Produktportfolio im Bereich Simulia, wo die Analysetools ihren Platz haben, kräftig und kontinuierlich erweitert. Das Unternehmen und sein CEO Bernard Charles haben eine klare Vision, ein Toolset zu schaffen, mit dem sich ein Produkt mit all seinen Eigenschaften in seiner Umwelt virtuell abbilden lässt. Dassault umschreibt dies mit dem Begriff „multi-scale“, das bedeutet, dass Simulationstechnologien zur Verfügung stehen, die von der atomaren Ebene bis hin zur „Weltsimulation“ reichen.
Bisher wurde typischerweise auf Komponenten- oder Baugruppenniveau simuliert, mit der Akquisition von Accelrys, heute unter dem Namen Biovia in das DS-Portfolio integriert, kam Technologie zur Simulation chemischer und biologischer Szenarien ins Haus. Diese erweitert die „Skala“ der Simulation hinab auf Materialwissenschaft und die physikalische beziehungsweise chemische Ebene, auf die Ebene der Atome und Moleküle.
Am anderen Ende dieser Skala steht mit Geovia der Blick aufs „Große Ganze“ in Form von komplett simulierten Städten. Die Durchgängigkeit ist dabei faszinierend. Dassaults Cheftechnologe Bruce Engelmann präsentierte diese am Beispiel eines Reifens von der molekularen Ebene, also der Gummimischung, über den Aufbau der Karkasse mit ihren Gewebelagen und die Simulation des gesamten Reifens bis hin zu einer Simulation einer Bordsteinfahrt, bei der das Verhalten des Reifens die Bewegung der Fahrtwerksgeometrie beeinflusst. Am Ende können solche umfassenden Fahrzeugmodelle in einer Smart City-Simulation herumfahren.
Die größte Simulia Community Conference aller Zeiten
Auch in Bezug auf die komplette Abbildung der Realität strebt Simulia nach mehr. So wurde eine strategische Partnerschaft mit der CST – Computer Simulation Technology AG bekanntgegeben, einem 1992 als Spinoff der Uni Darmstadt gegründeten Spezialisten für elektromagnetische Simulation. Die CST-Software kann die Ausbreitung der WLAN-Signale in einem modernen Bus ebenso simulieren wie die EMV-Verhältnisse in einem Smartphone oder die Aufheizung eines Bauteils in einem Induktionsofen – gerade letzteres Beispiel macht den Sinn der angestrebten Kopplung mit der thermalen Analyse in Abaqus deutlich.
Mit steigender Rechenleistung ist es zum einen möglich, immer größere, detailliertere Modelle zu erstellen, die sich dann noch in ausreichender Zeit berechnen lassen. Dominique Moreau, Vice President Airframe Technical Authority bei Airbus, zeigte in seinem Keynote-Vortrag, wie wichtig Simulation bei der Entwicklung des neuen Airbus A350 XWB war. Dessen tragende Struktur wird zu 50 Prozent aus CFK bestehen, auch der Rumpf und die Flügel bestehen aus Kohlefaser. Da ist die Simulation stark gefordert, da diese natürlich die Lage und Ausrichtung der CFK-Matten berücksichtigen muss.
Moreau erzählte, dass Airbus ein nahezu detailgenaues Komplettmodells des A350 aufgebaut hat. Das Modell hat über 60 Mio. Freiheitsgrade und erlaubt nicht nur mechanische, sondern auch thermale und Delaminierungsanalysen – und dies sowohl linear als auch nichtlinear. Moreau hält auf aktueller Hardware bis zu 100 Mio. Freiheitsgrade als technisch beherrschbar. Das hat für den Flugzeughersteller einen klar benennbaren Nutzen: Bisher wurde der erste Prototyp eines Flugzeugs immer bei Belastungstests zerstört – ließe sich das vermeiden, würden dies viel Geld sparen.
Allerdings ist es dazu notwendig, die Zertifizierungsbehörden zu überzeugen, dass diese Tests valide sind. Es dauerte laut Aussage von Bernard Charles im Pressegespräch, bis die US-Luftfahrtbehörde FAA 3D-Modelle als Basis der Zertifizierung der Boeing 777 akzeptierte, statt Zeichnungen zugrunde zu legen. Der Durchbruch kam, wie Charles erzählte, als Dassault bei einem (nicht mit der 777 zusammenhängenden) Flugzeugunglück am 3D-Modell die Unfallursache schneller fand als der Hersteller auf seinen eigenen Zeichnungen.
Im Bereich Medizin hat Dassault die Behörden schon überzeugt, die FDA empfiehlt für die Zertifizierung von medizinischen Produkten wie Stents oder Herzschrittmachern das Living Heart, das ich im letzten Blogeintrag schon ausführlich beschrieben habe. Auf der Simulia Community Conference wurde darüber hinaus die Verfügbarkeit des Living Heart als Produkt verkündet.
„We are not a middleware company, but a scientific company“
Charles sagte, dass Dassault eine Vielzahl von Grundlagenprojekten verfolge, aus denen in vielen Fällen Produkte entstehen. Er erläuterte dabei eine interessante Ansicht: „Life Science is Big Data“. Heute seien viele Vorgänge in der Biologie zwar nicht verstanden, aber gut dokumentiert. Dies sei eine ähnliche Situation wie vor Jahren in der Aerodynamik: Man habe auch dort eine Vielzahl von Testdaten erfasst und auf deren Basis Optimierung betrieben, auch ohne die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten zu kennen. Ähnliches sei mit Big Data und Simulationstechniken heute wieder möglich: Die Gesetzmäßigkeiten und Abläufe in biologischen und medizinischen Fragestellungen aus den riesigen vorhandenen Datenbeständen zu extrahieren und zu modellieren. Charles verdeutlichte: „We are not a middleware company, but a scientific company“.
Der Anspruch der „Simulanten“ ist zudem gewachsen, das Selbstverständnis ändert sich. Früher war die Simulation meist eher im hinteren Bereich des Produktentwicklungsprozesses zu finden, wo sie zum Festigkeitsnachweis oder zur Problemanalyse genutzt wurde. Seit einigen Jahren – und auch hier sind die explodierenden Computingressourcen ein entscheidender Faktor – verlagert sich die Simulation immer weiter nach vorn in diesem Prozess, bis hin zur Topologiedefinition durch die Simulationssoftware. Das Motto der SCC zeigt dies neue Verständnis: „Simulation powers innovation“, Innovation entsteht in der Simulation.
Die Technologievision von Dassault Systèmes ist umfassend und es ist erstaunlich zu sehen, wie weit die Technik heute schon gekommen ist. Das versteht dann auch der Journalist – ganz ohne Formeln.