Gestern besuchte ich das Karlsruher Institut für Technologie (KIT), um eine Führung zum Thema Industrie 4.0 zu besuchen. Dabei lernte ich die Leiterin des Instituts für Informationsmanagement im Ingenieurwesen kennen, Prof. Dr. Dr.-Ing. Dr. h. c. Jivka Ovtcharova. Sie stellte einige Thesen zum Thema Industrie 4.0 auf, die ich beachtenswert finde. Bosch, eines der Unternehmen, die sich wohl am intensivsten mit dem Thema Industrie 4.0 befassen, hat zudem ein interessantes Whitepaper herausgebracht.
Ovtcharova glaubt, dass wir viel zu viel über Ursachen und Technologien sprechen, wenn es um Industrie 4.0 sprechen und zu wenig über die Auswirkungen. Industrie 4.0 sei kein Ziel, sondern ein Weg dazu, die Lebensumstände unserer Gesellschaft zu verbessern. Ich möchte dazu aus Frau Ochtarovas Forschungsmotivation zitieren:
„Der Trend zu mehr sozialem Wohlbefinden im Einklang mit der Wohlstandssteigerung und die verstärkte Rolle der sozialen Vernetzung birgt deutlich die Anzeichen einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung. Dabei handelt es sich nicht mehr nur darum die Weltwirtschaft für die großen Herausforderungen zu stärken. Menschen mit der Fähigkeit des vernetztes Denkens und Handelns und mit dem Blick für das große Ganze sind gefragt. Bisher wird der Mensch mit seinem Potential, trotz aller Beteuerungen, jedoch noch als „Human Ressource“ aber nicht wirklich als „Resourceful Human“ betrachtet. Der Übergang zum „Mensch im Mittelpunt der Betrachtung“ setzt eine zukunftsfähige Innnovationskultur voraus, die ein grundlegend verändertes Verständnis der menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse im Umgang mit Technologien, Arbeitssystemen und natürlichen Ressourcen aber auch den Menschen selbst benötigt.“
Ein ganz wichtiger Gedanke ist dabei, dass man nicht auf den „großen Wurf“ warten darf, um in das Thema Industrie 4.0 anzugehen, sondern mit kleinen Schritten beginnen muss. Industrie 4.0 ist ja kein Prozess an sich oder etwas, das man kaufen beziehungsweise einführen kann. Es ist eine Philosophie, eine Palette von Technologien und meinetwegen eine Geldabschöpfmaschine.
Industrie 4.0: Machen, nicht warten
In die selbe Kerbe schlägt das Bosch-Whitepaper, das in der zugehörigen Pressemitteilung mit dem Nike-Werbespruch „Just Do It“ angeteasert wird. In der Pressemitteilung wird Dr. Verena Majuntke, Senior Solution Architect für Industrie 4.0 bei der Bosch Software Innovations GmbH, so zitiert: „Die Einführung solch innovativer Ansätze folgt nicht immer einem linearen Prozess – neue Geschäftspotenziale ergeben sich häufig während oder sogar erst nach der Einführung von Industrie 4.0-Technologien. Wir bei Bosch Software Innovations haben daher den Industrie 4.0 Innovation Cycle entwickelt. Damit geben wir den Maschinenbauunternehmen eine Methodik für den Start und die konkrete Weiterentwicklung von Industrie 4.0-Lösungen an die Hand.“
Es geht eben nicht um eine Revolution, sondern einen schrittweisen Prozess. Erst einmal bestehende Dienstleistungen und Technologien ausbauen und optimieren, die eigenen Produkte mit Sensoren und Vernetzung Industrie 4.0-tauglich machen. In diesem Prozess oder sogar noch später, wenn die Daten fließen, werden sich die eigentlich interessanten Chancen und Möglichkeiten von selbst ergeben.
Völlig anders gehen verschiedene Forschungsinitiativen das Thema an – da werden Modellfabriken aufgebaut, in denen unter Laborbedingungen beziehungsweise auf der berühmten „grünen Wiese“ ausgefeilte Prozesse entwickelt werden, denen eines fehlt: der Praxisbezug.
Wird Industrie 4.0 zu CIM 2.0?
Ich bin lange genug in der Branche, um mich noch an das CIM-Desaster zu erinnern, als in den 80er-Jahren die Produktentwicklung der Zukunft entwickelt werden sollte. Die Herangehensweise war damals sehr ähnlich: Monolithische, verwissenschaftlichte Idealinstallationen sollten die Werkzeuge und Prozesse für computerunterstützte Entwicklung und Produktion liefern. Das ist damals schon krachend gescheitert, weil zum einen die Technik noch nicht so weit war, zum anderen aber eben keine Firma einfach so „von Null“ anfangen kann. Eine Entwicklungsumgebung wird immer in eine Historie einzupassen sein – seien es Altsysteme, andere IT-Systeme, die mit Daten bedient werden müssen, oder auch bewährte Prozesse.
Die so mühselig entwickelten durchgängigen Prozesse scheiterten an den realen Anforderungen, aber auch am Unwillen der Systemhersteller, einheitliche, offene Schnittstellen zu entwickeln und bereitzustellen. Heute allerdings sind interessanterweise genau die fehlenden Technologien vorhanden – im Prinzip ist CIM heute sogar näher als zu den Hypezeiten. Übrigens verweist der Wikipedia-Eintrag zu CIM auf ein Zitat von Volker Spanier, Leiter Factory Automation von Epson, aus der Zeitschrift „Produktion“, dass Industrie 4.0 nur eine Umschreibung für den Begriff des Computer Integrated Manufacturing sei.
Industrie 4.0 wird ebenso scheitern wie CIM, wenn wieder alle auf den großen Wurf warten, der in der Realität nicht umsetzbar ist. Suchen Sie in Ihrem Unternehmen Ansatzpunkte, machen Sie ihre Produkte kommunikationsfähig und betrachten Sie bestehende Prozesse – dann wird sich Industrie 4.0 von selbst entwickeln.
Dieser Artikel ist ein Beitrag zur #Blogparade zum Thema „Industrie 4.0: Chancen, Risiken, Ideen und Umsetzungen – was hat Deutschland zu bieten?”