Nach einer Studie des Weltwirtschaftforums wird die Digitalisierung in den Industrieländern sieben Mio. Jobs kosten, aber nur zwei Mio. Arbeitsplätze neu schaffen. Die Studie befragte Topmanager der 350 größten Konzerne weltweit. Schlechte Aussichten, oder? Wenn man die Berichterstattung liest, dann ja. Ich zweifle da noch.
Die vierte industrielle Revolution, hierzulande auch bekannt unter Industrie 4.0, soll wie jede ihrer Vorgängerinnen Jobs kosten, aber im Gegensatz zu den bisherigen Umwälzungen sollen weniger andere Jobs dafür entstehen, so dass unter dem Strich fünf Mio. Arbeitsplätze wegfallen werden. Und es wird nicht wie bisher die unteren Ebenen der Pyramide treffen, sondern sozusagen den Mittelstand in Büros und Verwaltungen. Soweit die Prognosen oder besser gesagt die Erwartungen der befragten Manager.
Als großer Fan des Mittelstands habe ich ja schon mit der Erhebungsform ein Problem: Decken die „Topmanager der weltweit größten Konzerne“ tatsächlich das Meinungsspektrum der Industrie ab? Für Deutschland sicher nicht. Dass der inhabergeführte High-Tech-Mittelstand anders tickt als angestellte Topmanager in Großkonzernen, ist eine Binsenweisheit. Kleine und mittelständische Unternehmen sind viel näher an der aktuellen Entwicklung der Industrie dran. Um es mit einem maritimen Bild zu beschreiben: Während die großen Tanker noch relativ ruhig in die raue See der digitalen Umwälzung hineinfahren, werden die kleinen mittelständischen Leichtfrachter schon ordentlich durchgeschüttelt werden und neue Wege suchen müssen.
Medienbrüche vermeiden kostet Arbeitsplätze
Sicher richtig ist dagegen die Aussage, dass eher Büro- und Verwaltungsjobs gefährdet sind als die in Fabriken. Während letztere schon weitgehend durchrationalisiert sind, geraten mit steigender Intelligenz der Computersysteme immer stärker andere Bereiche in den Fokus. Ein gutes Beispiel für mich ist der Beruf des Bankkaufmanns: Bisher noch ein Synonym für einen sicheren Arbeitsplatz, zählen diese Jobs für mich zu den gefährdetsten der gesamten Industrie. Immer mehr Bankfilialen schließen, Kreditrisiken werden eh von IT-Systemen berechnet und auch viele andere Tätigkeiten lassen sich immer besser automatisieren.
Viele sogenannte Sachbearbeiterjobs leben von Medienbrüchen: Versicherungsangestellte prüfen heute noch manuell jeden kleinen Antrag auf Erstattung von Haftpflichtschäden, in der Verwaltung müssen Daten eingegeben und gepflegt werden. Überweisungen wurden am Bankschalter ausgefüllt. Genau diese Medienbrüche schaffen Industrie 4.0 und die Digitalisierung ab – und damit werden auch die entsprechenden Arbeitsplätze überflüssig.
Wer wird denn noch gebraucht? Dazu müssen wir uns – genau wie Unternehmen – auf unsere Kernkompetenzen besinnen. Was kann der Mensch, was Computer weniger gut können? Je repetitiver eine Tätigkeit ist, desto einfacher lässt sie sich digitalisieren. Übrig bleiben Tätigkeiten, die Kreativität und ganzheitliche Denkansätze erfordern. Also Konstruktion und Entwicklung, natürlich IT, aber auch der Bankberater, der den Firmenchef strategisch berät und Finanzkonzepte aufstellt. Zusammengefasst: MINT-Fächer und Jobs, die direkte Interaktion mit Menschen erfordert.
Man kann es vielleicht an dem genannten Versicherungssachbearbeiter deutlich machen: Die meisten Schäden folgen einem Schema und lassen sich algorithmisch erfassen und bewerten. Allerdings wird es immer einen Prozentsatz von Schadensanzeigen geben, die der Computer nicht versteht oder die nicht dem Schema entsprechen, bei denen Nachfragen notwendig sind: Hierfür wird es weiterhin menschliche Sachbearbeiter geben müssen.
Industrie 4.0: 3D-Drucker statt Paketbote?
Bezüglich der Auswirkungen auf die Zahl der Arbeitsplätze misstraue ich der Studie dagegen stark. Ob die Digitalisierung mit selbstfahrenden Taxis und Paketdrohnen tatsächlich Taxifahrer und Paketboten überflüssig macht, bleibt anzuzweifeln. Wer hat denn den Boom der Paketlogistik vorausgesehen, die der Onlinehandel mit sich brachte? Die Postkonzerne sicher nicht. Und bis 3D-Drucker die Warenströme deutlich negativ beeinflussen, weil weniger Dinge transportiert, sondern vor Ort produziert werden, wird auch noch einige Zeit ins Land gehen.
Der wichtigste Grund, nicht in Panik zu verfallen, ist für mich jedoch die Zielsicherheit solcher Stimmungsbilder: Gerade die Digitaltechnik bringt immer wieder und immer öfter interruptive Technologien hervor, die nicht als Weiterentwicklung bestehender Technologien in die Zukunft fortgeschrieben werden können. Das Smartphone ist eben nicht der Nachfolger des Mobiltelefons, sondern eine völlig neue Geräteklasse, deren Markteinfluss sich eben nicht auf die Mobilfunkbranche beschränkt, sondern beispielsweise den Absatz herkömmlicher PCs und Laptops bremste und Firmen wie Microsoft ins Stolpern brachte. Innerhalb von acht Jahren wurden unser aller Leben und die IT-Landschaft zu großen Teilen verändert.
Da helfen die besten Vorhersagen nichts, wenn plötzlich Technologien auftauchen, die so universelle Auswirkungen haben. Weil wir eben selbst nicht wissen, dass wir in naher Zukunft diese oder jene Möglichkeit haben werden. Man sollte also Studien mit Bedacht lesen und sich über die eigenen Kernkompetenzen im Klaren werden, um seine Karriere so zu steuern, dass man nicht von IT-Systemen ersetzt wird.
Eines dagegen ist sicher: Sich gegen den Fortschritt zu stemmen ist völlig sinnlos. Die Digitalisierung wird kommen, weil die Technologie dafür da ist. Wenn etwas technisch möglich ist, wird es genutzt werden, das zeigt die Erfahrung. Es ist nur die Frage, ob Technologie für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt wird. Als Einzelner hat man allerdings die Wahl, wie das Kaninchen vor der Schlange starr und passiv die Entwicklung auf sich zukommen zu lassen oder im eigenen Interesse gestaltend einzugreifen.
Wir sind allerdings in der Lage, und der Pflicht die Änderungen in Bezug auf die Auswirkungen und die Geschwindigkeit zu gestalten. Dies ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Nur hierüber gibt es bislang zu wenige Ansätze. Wenn die Arbeit in absehbarer Zeit weniger wird, dann könnten wir doch die wöchentliche, monatliche oder Jahres-Arbeitszeit verkürzen. In der 3. Industriellen Revolution wurde dies mit der 35-Stunden-Woche praktiziert. Und brauchen wir angesichts von I4.0 ein Renteneintrittsalter von 67 oder gar 70?
Noch ein Wort zum Wegfall von Millionen Arbeitsplätzen. Ich habe in den frühen siebziger Jahren Informatik studiert. Es herrsche unter Teilen der Studierenden die These, dass die Informatik ein Berufsstand sei, der sich bald selbst abschafft. Eine zweite These war, dass die CAD-Technik den Berufsstand von Konstrukteuren eliminieren werde. Nun wir wissen, dass dies nicht passiert ist. Wir suchen vielmehr an einigen Stellen verzweifelt nach Fachpersonal. Ein Grund: Wir haben Produkte neu geschaffen, an die wir damals gar nicht denken konnten.
Hallo Herr Kühner,
Sie haben absolut recht. Fortschritt gestalten, nicht verhindern – nur so geht es.
Zum Rentenalter: Wieso brauchen wir überhaupt ein verpflichtendes, gesetzliches Rentenalter für alle Branchen? Dass das nicht den Lebensumständen eines Dachdeckers und eines Uniprofessors gleich gerecht werden kann, ist eigentlich logisch.
Revolutionen sind eben nicht evolutionär, sondern revolutionär, deshalb der Name :-) Und deshalb ist die Weiterschreibung heutiger Verhältnisse über das revolutionäre Ereignis hinaus einfach nur sinnlos.
Viele Grüße nach Karlsruhe!
Interessante Insights zum Thema Industrie 4.0 und die Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Als Metajobsuchmaschine haben wir die Gegenseite betrachtet und analysiert, wie viele Stellen im Bereich der künstlichen Intelligenz momentan entstehen. Dabei konnten wir unter anderem feststellen, dass diese Stellen vor allem im ohnehin wirtschaftsstarken Süddeutschland ausgeschrieben werden, sich hauptsächlich an hoch qualifizierte Fachkräfte richten und lediglich 5 % aller wegfallen Jobs ersetzen könnten: https://joblift.de/Presse/Arbeitsmarkt-4.0_K%C3%BCnstliche-Intelligenz-zu-59-Prozent-Jobfresser_zu-3-Prozent-Jobmotor.
Viele Grüße!