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Digitalisierung ist nicht böse – der Mensch ist es (manchmal).

Im neuen Spiegel wurde unter der Überschrift „Das Leben ist analog“ ein Debattenbeitrag des Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer zur Digitalisierung veröffentlicht, der einige – meiner Meinung nach – selten dämliche Thesen enthält. Der Untertitel zeigt, in welche Richtung das ganze zielt: „Die digitale Diktatur und wie man sie bekämpft.“

Wer die Welt nur über den Bildschirm seines Smartphone wahrnimmt, ist selbst schuld (Pixabay/FirmBee).

Wie so oft werden analog und digital als Gegensatz beziehungsweise Gegenpole dargestellt – was meiner Meinung nach in keinster Weise stimmt. Angereichert wird das Ganze mit dem Aufruf, den Fortschritt aufzuhalten beziehungsweise ihm entgegenzutreten. Was ich davon halte, habe ich schon öfters geschrieben. Schon die Eingangsthese ist Quark:

Flüchtlingskrise, Kriege, Abhängigkeit von Rohstoffen bilden eine Kaskade von Problemen, von denen nicht ein einziges mit den Mitteln der Digitalisierung zu lösen ist.

und einen Absatz weiter:

Google und all die anderen lösen doch ausschließlich Probleme, die wir nie gehabt haben, triviale Probleme

Wenn alle Erfindungen und Entwicklungen nach Welzers Kriterien für triviale oder nichttriviale Probleme beurteilt würden – letztere nennt Welzer: „Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gewalt, ungleiche Verteilung von Ressourcen, die Ausnutzung der Macht“ – blieben nicht viele Errungenschaften der Menschheitsgeschichte übrig. Nach diesen Maßstäben können wir Maschinenbauer einpacken. Das Auto – durchgefallen. Heizung – durchgefallen. Flugzeuge, Kraftwerke, elektrischer Strom und elektrisches Licht – durchgefallen. Mist. Auf der anderen Seite – wer mal einen Herzinfarkt hatte, wird bestimmt etwas froh gewesen sein, dass er mit einem Rettungswagen in die Klinik gefahren und dort in einem trivialen OP-Saal mit trivialen Geräten operiert wurde.

Herrn Welzers Idealvorstellung eines Smartphone: Das iStone (Bild: istone.ch).

Natürlich gab es eine Welt vor der Digitalisierung, und wir alle liefen vor Erfindung des iPhone nicht in Fellen herum. Und natürlich können Smartphones, Facebook und Apps unglaubliche Zeitvernichter sein. Und ganz sicher sind Facebook, Google, Apple und Konsorten keine Weltverbesserer, sondern knallhart agierende Unternehmen, die von den Daten profitieren, die wir ihnen freiwillig geben.

Gefährlich wird es, wenn Welzer in seiner vierten These postuliert:

Machen Sie mit bei einer kollektiven Update-Verweigerung. Hören Sie auf „Erleichterungen“ und „Verbesserungen“ zu akzeptieren, nach denen Sie nie ein Bedürfnis gehabt haben. Derlei Dinge dienen dazu, Sie besser ausnutzen zu können […]

Herr Welzer, ich kann Ihnen versichern, dass die Kriminellen, die konstant genau solche Updateverweigerer mit ihren Viren, Trojanern usw. abzocken und ausspähen, sich diebisch freuen, wenn sie einen Rechner wie Ihren finden, auf dem keine Sicherheitsupdates eingespielt werden. Die Jungs sind nämlich auf dem allerneuesten Stand der Technik, ob Sie das mögen oder nicht.

Die fünfte These ist typische Fortschrittsverweigerung deutscher Intellektueller:

Dasselbe gilt für alle Apps. Am besten schmeißen Sie Ihr Smartphone überhaupt weg und besorgen sich – die gibt’s noch für Rentner – gute alte Handys, die nichts können.

Wollen wir wirklich die alten Zeiten wieder? (Pixabay/MustangJoe)

Super Idee, Herr Welzer. Auch die alten Handys können etwas: Ihren Standort und Ihr Bewegungsprofil konstant an die Telefongesellschaft melden. OK, Google und Apple haben keinen Zugriff mehr. Aber dann machen Sie es doch bitte richtig und nutzen Sie nur noch das gute alte Festnetztelefon. Warten Sie, Mist. Dessen Standort ist ja auch bekannt.

Zum Ende versteigt sich Welzer in Gewaltphantasien und empfiehlt das Abschießen von Drohnen und die Zerstörung von Überwachungskameras und Google Glasses sowie das Hacken smarter Häuser. Was soll ich da noch dazu sagen.

Vielleicht wird es Zeit, mal eigene Thesen zur Digitalisierung aufzustellen:

  1. Technik ist in sich neutral. Sie ist nicht böse und nicht gut. Ein Messer kann zum Töten oder zum Operieren und damit zum Retten von Leben benutzt werden. Genauso verhält es sich mit der Digitalisierung.
  2. Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Die letzten, die das einigermaßen erfolgreich versuchten, waren die Japaner, die im 16. Jahrhundert Schusswaffen ächteten, das führte dazu, dass das Land 200 Jahre später den Amerikanern nichts entgegenzusetzen hatte, also diese 1854 mit modernen Dampf-Kriegsschiffen die Öffnung des Landes erzwangen. Der Fortschritt wird sich immer durchsetzen – wenn die Vernünftigen eine Technik nicht nutzen – es wird immer Menschen geben, denen Bedenken fremd sind und die mit der neuen Technik Böses anrichten.
  3. Fortschritt hat keine Richtung, es liegt an uns, Technologien sinnvoll einzusetzen. Der Glaube, Fortschritt sei immer gut, ist ebenso falsch wie der Glaube, er sei immer schlecht. Neue Technologien sind nicht immer ein Schritt in die richtige Richtung, es liegt an uns, neue Angebote zu analysieren, zu bewerten und im Zweifelsfall nicht zu nutzen.
  4. Wer sich entmündigen lässt, ist selbst schuld. Oft wird postuliert, dass die modernen Medien und entmündigen – das Gegenteil ist der Fall. Wir alle müssen lernen, mündig mit den Medien, Möglichkeiten und Techniken umzugehen. Wer nichts tut, wird allerdings entmündigt. Geht man verantwortungsvoll und aufmerksam mit Technologie um, wird man profitieren, wenn man kritiklos verdammt, werden andere die Technologie nutzen.
    Ein gutes Beispiel ist die flexible Fertigung mit MES: Wenn alle Maschinendaten gesammelt, gespeichert und ausgewertet werden, lässt sich eine Fertigung extrem flexibel steuern – man weiß jederzeit, wie weit die gerade bearbeiteten Aufträge sind, wann eine Maschine für den nächsten Auftrag zur Verfügung steht und so weiter. Das kann man nutzen, um die Mitarbeiter minutiös zu überwachen, genau zu berechnen, wie gut sie ihre Arbeit machen und welcher Arbeitsplatz problemlos eliminiert werden kann. Oder man nutzt die neue Flexibilität für flexiblere Arbeits- und Arbeitszeitmodelle und selbstverantwortliches Arbeiten in der Produktion. Aber dazu müssen sich Arbeiter und Vorgesetzte als Partner begreifen und zusammenarbeiten.
  5. Verweigerung ist keine Option. Klar kann man sich in die sprichwörtliche Höhle zurückziehen, aber ich bin sicher, dass niemand in die Steinzeit und nicht einmal ins vorletzte Jahrhundert zurückkehren möchte. Die Verhältnisse in den Fabriken der industriellen Revolution, wie sie Charlie Chaplin in „Moderne Zeiten“ beschrieben hat, kann sich niemand ernsthaft zurückwünschen. Aber das wäre die Konsequenz aus konsequenter Fortschrittsverweigerung.
  6. Die Uninformierten sind die ersten Opfer. Es gilt, die Digitalisierung aufmerksam und voreingenommen zu begleiten. Bewerten, analysieren, gestalten – all das erfordert Wissen, Bildung und ein ethisches Fundament, das sich nicht im kategorischen Ablehnen erschöpft. Hier läge eine lohnende Aufgabe für Herrn Welzer und seine Zunft: Eine Ethik der Digitalisierung zu schaffen, die die Implikationen dieser Technologie – die uns im wahrsten Sinn des Wortes so nahe kommt wie keine andere jemals zuvor – in ein zivilisatorisches Gerüst einordnet.
  7. Digitalisierung braucht Gestalter. Wer das Netz und die Digitalisierung den Doofen, Bösen und Skrupellosen überlässt, darf sich nicht wundern, wenn am Ende das Netz die Digitalisierung doof, böse und skrupellos sind. Dazu empfehle ich einfach mal die hervorragende Kolumne von Sascha Lobo „Hilferuf an die mindestens durchschnittlich Begabten“.

Bei seiner ersten These muss ich Harald Welzer allerdings überwiegend Recht geben:

Das Leben ist analog. Beziehungen sind analog, Empathie, Liebe, Hass, Wut, Mitleid und Freude sind analog. Erinnern Sie sich stets daran, dass Sie im Netz Hilfe nur in trivialen Fällen bekommen; wenn es hart auf hart kommt, braucht es richtige Menschen. Die da sind. Die mit Ihnen gemeinsam etwas machen. Mit denen Sie etwas gemeinsam machen. Lassen Sie sich nicht isolieren.

Stimmt. Schalten Sie das Smartphone aus, treffen Sie sich mit Freunden. Und reden Sie miteinander – vielleicht sogar über die Digitalisierung. Aber bitte nicht nur in Form von Klischees.

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