Mein geschätzter Kollege Stefan Graf von der Zeitschrift PLM IT Business hat einen Artikel zu einer interessanten Studie veröffentlicht, die eine meiner Lieblingsthesen unterstreicht: Industrie 4.0 greift zu kurz. Die Studie der Managementberatung Oliver Wyman konstatiert: „Die Diskussion um Industrie 4.0 greift bislang noch zu kurz, weil sie stark auf den Produktionsbereich und die Technologie fokussiert. Dabei liegen die entscheidenden Wertpotenziale außerhalb der Produktion: in der Veränderung von Prozessketten, anderen Entscheidungsprozessen und neuen Geschäftsmodellen.“ Wie so oft wirken digitale Neuerungen nicht an der Stelle, an der sie eingesetzt werden, sondern erst später im Prozess. Das muss man wissen, um die Chancen richtig einschätzen zu können.
Wie oft habe ich bei Interviews in Konstruktionsabteilungen gefragt: „Wieviel Zeit spart Ihnen 3D-Modellierung?“, um folgende Antwort zu erhalten: „Gar keine, wir haben viel mehr zu tun als früher!“ Die 3D-Modellierung, vor allem aber die Einbindung der Konstruktionsabteilung und ihrer Daten in die kommerziellen Prozesse, brachten den Konstrukteuren viele neue Aufgaben. Konnte man früher auf der 2D-Zeichnung an vielen Stellen im Ungefähren bleiben („Bei Montage anpassen“) und die genaue Ausgestaltung der Fertigung überlassen, müssen Modelle heute komplett ausdetailliert werden.
Maschinengehäuse wurden früher in vielen Fällen erst am Ende hergestellt: Wenn die Maschine montiert war, wurden Bleche um diese herumgebogen, festgeschraubt und resedagrün angemalt. Entsprechend grauenhaft war oft das Design. Heute legt man viel Wert auch auf das Äußere der Maschinen, die Außenhülle wird von Anfang an durch Designer oder die Konstruktion definiert und muss modelliert werden. Ebenso legen die Konstrukteure heute Metadaten und ERP-Datensätze der Bauteile an. Eine weitere von vielen Tätigkeiten, die früher an anderen Stellen – und oft von weniger gut bezahlten Mitarbeitern – durchgeführt wurden.
Deshalb war oft die – kurzsichtige – Sichtweise zu hören, dass 3D-Modellierung keine Vorteile gebracht habe, sondern eher mehr Arbeit und höhere Kosten. Betrachtet man den gesamten Prozess, stimmt das jedoch nicht mehr – bessere Qualität, weniger Fehler durch mehrfache Dateneingabe, bessere Marketingmöglichkeiten und schnellere Handbucherstellung durch Renderings und viele andere Pluspunkte folgen aus der durchgängigen Nutzung der 3D-Modelle.
Die Effekte von Industrie 4.0 sind nicht immer offensichtlich
Ähnlich dürfte es nun bei Industrie 4.0 laufen. Die Anwendungen, auf die heute gerne fokussiert wird und die mit Industrie 4.0 gut umschrieben sind, werden, wie ich glaube, nicht die Szenarien sein, die das größte Potential haben, sondern nachgelagerte Bereiche, an die man heute oft noch gar nicht denkt – vor allem nicht wenn man den künstlich verengten Blickwinkel „Industrie 4.0“ einimmt.
Der PLM IT Report-Artikel zitiert Thomas Kautzsch, Partner bei Oliver Wyman und Leiter des globalen Beratungsbereichs Automotive und Manufacturing Industries:
„Die größten digitalen Werthebel liegen gar nicht wie vielfach unterstellt in der Technologie oder nur in einer Flexibilisierung der Fertigung, sondern in teilweise produktionsfernen, indirekten Bereichen wie Vertrieb, Preissetzung, Planung, Controlling oder Einkauf.“ Die Studie „Digitale Industrie – Der wahre Wert von Industrie 4.0“ gibt Aufschluss über die entscheidenden Stellschrauben und Konfliktfelder der nächsten Jahre: „Spannend wird vor allem die Frage, wer sich das zusätzliche Wertpotenzial einverleibt. Denn das Phänomen Industrie 4.0 verändert potenziell in hohem Maße das Machtgefüge zwischen den an der Wertschöpfung beteiligten Unternehmen“, sagt Kautzsch. Etablierte Fertigungsunternehmen haben laut Studie zwar eine gute Ausgangsposition, müssen aber schnell und strategisch klug handeln.
Noch ein Zitat:
Gut gerüstet sehen sich bisher offenbar die wenigsten Manager. Im Rahmen der Studie gaben alle Entscheider der befragten Maschinen- und Anlagenbauer ausnahmslos an: Es fehle an „Kreativität, um über bestehende Betriebs- und Geschäftsmodelle hinauszudenken“. 86 Prozent vermissten in ihren Unternehmen zudem „interne Software- und Datenkompetenzen“ und noch 84 Prozent räumten selbstkritisch ein, es fehle an „Know-how bei der Analyse großer Datenmengen“ und der Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen.
Ähnliche Thesen habe ich hier und hier schon formuliert, der Artikel und die Studie untermauern diese mit interessanten Beispielen aus der Praxis. Es lohnt sich also – nachdem Sie meine Beiträge gelesen haben J – zum PLM IT Report und zu Oliver Wyman zu wechseln.