Ja, man kommt sich blöd vor, ich kann es trotzdem nur empfehlen: Spielen Sie unbedingt eine Runde Pokémon Go, Sie werden die Zukunft des Maschinenbaus erleben. Das Spiel zeigt ganz spielerisch, wie natürlich und einfach Augmented Reality (AR) funktioniert. Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn die virtuelle Welt plötzlich „greifbar“ wird.
1998: „Hör auf, Pokémon zu spielen und geh raus!“
2016: „Hör auf, Pokémon zu spielen und komm rein!“
Spielehersteller Niantic hat mit seinem neuen Spiel alle Rekorde gebrochen, mehrere Millionen Downloads in einer Woche, ein Medienhype rund um die Welt, ausgelöst durch ein Spiel, das Kamera und Sensoren der modernen Smartphones clever ausnutzt. In Deutschland wird der Hype um das Spiel eher spöttisch kommentiert und die üblichen Bedenkenträger melden sich umgehend – beispielsweise der ADAC oder die Berliner Polizei. Klar gibt es die fünf Prozent Wahnsinnigen, die auf der Autobahn wenden oder auf einen Baum fahren, weil sie Pokémon Go spielen. Die wären meiner Meinung nach aber ansonsten eben gegen den Baum gefahren, weil sie eine CD wechseln oder ein Butterbrot essen beim Fahren. Ich verzweifle langsam an der Technikfeindlichkeit und der Überheblichkeit der Technik(nutzung) gegenüber, die sich in unseren Medien manifestiert.
Pokémon Go – virtuelle Objekte, in der Realität positioniert
Wenn man sich aber mal auf das Spiel einlässt – ich spreche von zehn Minuten, nicht von der Aufgabe des sozialen Lebens – spürt man schnell die Faszination, wenn das Smartphone Dinge enthüllt, die in der Realität nicht sichtbar sind. Der Bildschirm zeigt zunächst eine Art Straßenkarte der Umgebung, hochfliegende Blätter zeigen an, wo sich ein wildes Pokémon versteckt. Ziel ist es, dieses zu fangen. Man geht also an diese Stelle und verfolgt das Tier. Ist man nahe genug, schaltet die Software auf Augmented Reality um und man sieht die Umgebung, die die Kamera aufnimmt, auf dem Bildschirm – plus das eingeblendete Pokémon. Es kann also sein, dass ein Pokémon in meinem Garten oder Wohnzimmer herumhopst.
Übertragen wir den geschilderten Ablauf nun auf die technische Arbeitswelt. Als Servicetechniker werde ich zu einer defekten Fertigungsmaschine gerufen. Diese ist etwa 50 Meter lang und besteht aus einer Vielzahl von Komponenten und Teilmaschinen, die der Hersteller zum Teil selbst entwickelt, zum Teil aber auch selbst nur zugekauft hat. Die Maschine hat über IoT gemeldet, dass ein Lager an einem Antriebsmotor überhitzt und demnächst kaputtgehen wird. Ich stehe also vor einer – aktuell noch laufenden – Maschine und soll unter tausenden von Komponenten, die über zig Kubikmeter verteilt sind, ein Teil finden, das aktuell noch funktioniert, aber eben nicht mehr lange. Ich glaube, dass schon viele Servicetechniker in dieser Lage froh gewesen wären, ein paar hochfliegende Blätter zu erspähen.
Denken wir weiter: Mit einem AR-Device ausgerüstet, kann uns die Maschine schnell zu dem problematischen Motor führen. Dort zeigt die AR-Anwendung in einem virtuellen Armaturenbrett in Echtzeit die Betriebsparameter und technischen Daten des Motors an – so bekomme ich eine saubere Entscheidungsgrundlage, wie weiter vorzugehen ist, welche Ersatzteile ich brauche und wie der Aufwand der Reparatur ist. Kann man die Reparatur in die nächste Wartungspause, in eine Rüstzeit oder einen Schichtwechsel verlegen oder muss die Anlage sofort angehalten werden? Solche Fragen können tausende von Euro wert sein, da sollte man seine Entscheidung gut begründen können.
Komplexität beherrschbar machen und visualisieren
Maschinen und Anlagen sind heute so komplex und riesig, dass kein einzelner Mensch jeden Winkel und jedes Bauteil kennen kann. Oft sind Anzeige- und Bedienelemente vor Ort gar nicht vorhanden – dann bringt AR eine riesige Erleichterung. Man denke an einen Techniker in einem Chemiewerk. Der Standort Ludwigshafen der BASF hat eine Fläche von zehn Quadratkilometern. AR ermöglicht es dem Techniker ebenso wie dem Planer und dem Konstrukteur, ihre Daten, Anzeigeinstrumente und Bedienelemente an jeder Stelle dieser gigantischen Anlage dabeizuhaben.
Allzu oft wird AR als Hilfsmittel gesehen, erfahrene Servicetechniker durch ungelerntes Personal zu ersetzen. Das ist aber nicht der Punkt. AR ist der Leitstand oder der Datenanzeiger in der Hosentasche, ein Begleiter und Helfer vor Ort, der virtuelle Daten in einen realen geografischen Zusammenhang bringt. Die Softwarehersteller haben das schon verstanden, allen voran PTC, die mit Vuforia einen der Schlüsseltechnologieanbieter für AR gekauft haben. Aber auch andere Firmen springen auf den Zug auf. Wenn sich AR in der Bevölkerung – auch durch Spiele wie Pokémon Go – selbstverständlich wird, wird es sich in der Arbeitswelt durchsetzen. Vor allem, wenn man noch an Devices wie die Hololens denkt, die AR noch einfacher und natürlicher erlebbar machen.
Probieren Sie Pokémon Go aus, dann verstehen Sie es. Aber Vorsicht – achten Sie auf Ihre Umgebung!
P.S. Lesen Sie auch den Blogbeitrag von Monica Schnitger zum selnem Thema, wir sind unabhängig voneinander auf das selbe Thema gekommen.