Erst am 10. November hatte Siemens bekanntgegeben, dass man enger mit dem Infrastruktur- und Fabrikplanungsspezialisten Bentley zusammenarbeiten und einen nicht unerheblichen Anteil am Unternehmen kaufen wolle. Im Januar hatte man schon CD-adapco gekauft, nun folgt der nächste große Streich, und diesmal ist es ein ganz besonderer: Siemens kauft Mentor Graphics. Der EDA-Anbieter ist meiner Meinung nach eine optimale Ergänzung des Siemens-Portfolios.
Es war in den letzten Jahren eine meiner Lieblingsfragen an die Großen der CAD-Branche: „Wann kaufen Sie Mentor Graphics?“ – von Siemens über PTC bis zu Dassault Systèmes: Jeder Anbieter unserer Branche reklamiert für sich, ein umfassendes Portfolio für die Produktentwicklung zu haben. Dabei blendeten alle Genannten mindestens den Elektronik-Bereich – immerhin die zweite Hälfte des Schlagworts „Mechatronik“ – aus. Die Antwort waren meist Hinweise auf Schnittstellen zu Mentor, Cadence, Zuken oder Eagle, den wichtigsten Anbietern im Bereich der Leiterplattenentwicklung und Electronic Design Automation (EDA).
Mir ist das seit langem unverständlich, wie man einerseits über smarte Produkte und Industrie 4.0 sprechen kann und gleichzeitig mindestens einen der drei Bestandteile Mechanik, Elektronik und Software ausblenden oder externen Firmen überlassen kann. Im Software-Entwicklungsbereich bietet immerhin PTC mit seinem ALM-Portfolio Lösungen an, bei Siemens und Dassault Systèmes kenne ich keine entsprechenden Lösungen für eine ganzheitliche, integrierte Produktentwicklung aus einer Hand. [Update: Siemens kann seit der Übernahme von Polarion ebenfalls eine ALM-Lösung bieten.]
Wie soll man einen digitalen Zwilling schaffen, wenn man die Elektronik extern verwaltet? Dabei geht es bei weiten nicht mehr nur um ein detailliertes dreidimensionales Modell der Leiterplatte, sondern um das Verhalten. Wie will man das Verhalten eines zukünftigen Produkts simulieren und testen, wenn das Verhalten der Elektronik nicht abgebildet wird? Oder nur ein einem externen System, das nicht in die Simulation integriert werden kann? Wie soll denn eigentlich Systems Engineering funktionieren, wenn das Modell die Elektronik und deren Funktionen nicht als integralen Bestandteil enthält?
Interessanterweise haben gerade die Midrange-Systeme Lösungsansätze gefunden oder auf der Agenda – Autodesk mit dem Kauf von Eagle-Anbieter CadSoft, SolidWorks in der engen Partnerschaft mit Altium. Hier sprechen wir sicherlich nicht über Systems Engineering, aber immerhin über integrierte CAD/EDA-Entwicklung und – im Falle von SolidWorks PCB – um die Übergabe von Komponenteneigenschaften beispielsweise für die thermische Simulation. Dabei kann SolidWorks die Wärmeentwicklung einzelner Bausteine (die vom Altium-Teil geliefert wird) berücksichtigen.
Mentor Graphis bringt mehr als EDA mit. Besonders wichtig: Funktionssimulation für Systems Engineering
Nun also Siemens und Mentor Graphics. Letztere fand ich schon lange sehr interessant, weil das Produktportfolio von Mentor weit über die reine Leiterplattenentwicklung hinausgeht. So werden Siemens-Kunden aus dem Automotive-Bereich wie Daimler gerne hören, dass das Unternehmen nun eine Lösung für die Entwicklung von Embedded-Systemen anbieten kann. Zudem ist Mentor sehr stark im Bereich der Simulation auf abstrakter Ebene, wie sie im Systems Engineering genutzt wird.
Siemens zahlt für Mentor Graphics 4,5 Milliarden Euro, die Anteilseigner erhalten 37,25 Dollar je Aktie. Siemens-Chef Kaeser betonte letzte Woche gegenüber der Wirtschaftspresse die Bedeutung der Software-Sparte, die nach der Medizintechnik die zweitprofitabelste Sparte des Unternehmens sei. Das Handelsblatt nennt in seinem Bericht zur Mentor-Übernahme folgende Zahlen:
An der Börse war Mentor Graphics zuletzt rund 3,3 Milliarden Dollar wert. Siemens zahlt nun gut ein Fünftel mehr. […]
Im vergangenen Geschäftsjahr 2015/16 erzielte Siemens laut Kaeser mit Branchensoftware rund 3,3 Milliarden Euro Umsatz. 29 der 30 führenden Autohersteller nutzten Siemens-PLM-Software. „Siemens wandelt sich Schritt für Schritt zu einem digitalen Unternehmen.“ Das Geschäft ist dabei hochprofitabel. Die Division Digitale Fabrik steigerte ihren Umsatz im vergangenen Geschäftsjahr leicht auf 10,3 Milliarden Euro. Das operative Ergebnis lag bei 1,7 Milliarden Euro. Mit einer operativen Umsatzrendite von 16,6 Prozent ist die digitale Fabrik nach der Medizintechnik damit das profitabelste Geschäft von Siemens.
Siemens wandelt sich zum digitalen Konzern, viele „alte“ Bereiche wie die Kernenergie, aber auch die Windkraftsparte und die Medizintechnik werden ausgegliedert oder verselbständigt. Parallel dazu baut das Unternehmen an seiner Vision eines digitalen Backbone, der von der Produktentwicklung über die digitale Fabrikplanung bis in die Maschinensteuerung reicht. Meiner Meinung nach ein sehr intelligentes Konzept, das zeigt, dass Siemens verstanden hat, wohin sich die Welt entwickelt. Der Kauf von Mentor Graphics passt da wie die berühmte Faust aufs Auge.
Mehr Informationen, darunter die Aufzeichnung des Analyst Calls, finden Sie hier.