Für den Fachjournalisten ist eine Veranstaltung wie Dassaults Systèmes‘ „Design in the Age of Experience“ in Mailand – ich berichtete am Mittwoch schon darüber – eine Herausforderung: Keine neuen Produkte, außer im Ausstellungsbereich keine Demos. Auch in den Vorträgen kamen Worte wie Dassault Systèmes, Catia oder SolidWorks praktisch nicht vor – über was soll man da schreiben? Auf der anderen Seite konnte man lernen, dass die von Dassault Systèmes und seinem CEO Bernard Charlés seit langem vertretene Philosophie der 3DExperience tatsächlich Wirklichkeit wird (Ich hatte mich hier schon vor einiger Zeit mit der Idee der Experience Economy beschäftigt).
Die Sprecherliste las sich wie ein Who-is-who der Designszene, so traf Fiat-Chysler-Designchef Klaus Busse auf Fabio Filippini, den Design Director von Pininfarina, Nikons Designabteilungsleiter Hiroshi Kobayashi fand sich mit Architekt Toshiko Mori und Ricardo Balbo, dem Direktor des Istituto Europeo Di Design (IED) auf einer Bühne. Auch am ersten Tag waren große und kleine, alte und neue Design-Zugpferde vertreten, von Delft Hyperloop über Joby Aviation und Yobi bis Freight Farms und Honda Acura.
Ich will gar nicht auf alle Vorträge eingehen, zu gedrängt waren die Informationen der beiden Tage. Aber egal ob es um Flugzeuge, Architektur, Autos oder Hydroponikfarmen ging – eine Gemeinsamkeit zog sich durch alle Vorträge: Die Zeit der Solitäre, die ihre Schönheit und ihre Berechtigung aus sich selbst zogen, ist vorbei. Alles ist mit allem verbunden und vernetzt, Produkte und Gebäude reflektieren ihre Umgebung und beziehen sich auf sie. Design wird im Kontext gesehen, sowohl im Kontext der Umgebung als auch der realen Nutzung. Und das Design reflektiert wiederum die Nutzung.
So zeigt der Acura aus Hondas Performance-Markenreihe die Dynamik seiner Fahrleistungen in jedem Detail, das Dynamic Design zieht sich bis in den Innenraum. Simona Maschi vom Copenhagen Institute Interaction Design sagte, dass früher, in Zeiten der Handwerker, der Mensch – in diesem Fall der Käufer – und sein Produkt – das speziell für ihn gefertigt wurde, noch eins waren. Die Industrialisierung veränderte das: Die Produkte wurden an die Maschinen und die Fertigung angepasst, die Menschen mussten die Produkte so nehmen wie sie waren. Social Design bringt Produkte wieder an die Menschen heran, die Produkte passen sich an den Nutzer an, bis individualisiert sind.
Dies drückt sich nicht nur im Design selbst aus, sondern auch in dessen Entstehung: Statt eines genialen Stardesigners, der in seinem stillen Kämmerchen die Erleuchtung sucht, entsteht Design heute oft in einem temporären Netzwerk von Einzelpersonen und kleinen Studios, die weltweit verteilt sind und dennoch eng zusammenarbeiten.
Sehr interessant und eine Ergänzung zum Geschriebenen fand ich die Diskussion am zweiten Tag zwischen Martin Tamke vom Centre for Information Technology and Architecture und Toshiki Meijo Chief Designer des Architekturbüros Kengo Kuma & Associates. Während Tamke sehr viel an neuartigen Materialien forscht, besinnt sich Meijo auf die Handwerkskunst der alten Japaner. Ich denke, beide Ansätze sind es, die gemeinsam in die Zukunft führen.
Auf der einen Seite ermöglichen moderne Materialien, die genau für den Einsatzzweck entwickelt werden, völlig neue Formen und Konzepte. Tamke zeigte unter anderem einen gestrickten Turm. Die Herstellungstechnik Stricken ermöglicht es, das Textilmaterial an jeder Stelle an den Einsatzzweck anzupassen, beispielsweise indem Verstärkungen für Befestigungselemente direkt eingestrickt werden. So lassen sich Rohstoffe optimal einsetzen, die Freiheit des Designers wird größer, weil die Beschränkung durch das Material wegfällt. Zudem forscht Tamke an bionischen Strukturen, deren Effizienz daher kommt, dass Material kostbar, Geometriekomplexität dagegen kostenlos ist.
Hierarchiefreie Zusammenarbeit von Experten ist die Zukunft
Meijis Ansatz korrespondiert mit dem Gedanken von Simona Maschi: In der „guten alten Zeit“ in Japan arbeiteten Handwerker, im besten Fall Spitzenkräfte ihres jeweiligen Fachs, daran, ein Produkt in absoluter Perfektion zu erschaffen. Dabei mussten beispielsweise Schmied, Tischler und Lackierer Hand in Hand arbeiten, um gemeinsam Erfolg zu haben. Gleichzeitig war der Kunde und spätere Nutzer eng eingebunden. Schlichtheit, Perfektion und Individualisierung – das ist alt und gleichzeitig sehr modern.
So bekommt das Wort „Experience“ eine Bedeutung, die man verstehen kann. Es geht darum, dass verschiedene Beteiligte in einem gemeinsamen Prozess ihre Kenntnisse und Techniken einbringen, um ein Produkt zu erschaffen, das sich dem Nutzer und dem Nutzungszweck perfekt anpasst.
Und im zweiten Schritt erschließt sich mir sogar der etwas seltsame Dassault-Claim „Design is Tribes“: Tribe übersetzt Stamm, Sippe, bezeichnet das Designteam, das eine gemeinsame Kultur, gemeinsame Emotionen, Erfahrungen und Visionen teilt. Diese Gemeinsamkeiten und nicht irgendeine künstliche Hierarchie ist die Klammer, die aus vielen Einzelpersonen und -teams ein virtuelles Designteam macht.
Wenn man gedanklich so weit gekommen ist, macht natürlich auch der Ansatz der 3DExperience Plattform und von Dassault Systèmes, nicht mehr über Produkte zu sprechen, sondern über Lösungen, Sinn: Man verkauft einem solchen Team keine X Seats Catia und Modul Y. Z und A, sondern eine Experience-Lösung, die das Team bei der Arbeit optimal unterstützt. Welche Module die benötigten Funktionen beisteuern, ist dabei nebensächlich – es wird eine integrierte, nahtlose Lösung geliefert.
Die Kunst für Dassault Systèmes ist es nun, diesen radikal neuen Ansatz dem Mittelständler zu vermitteln, dessen Einkäufer dann am liebsten mit der Modulliste bewaffnet drei Angebote einholen würde. Das funktioniert so nicht mehr, wenn die Lösung jeweils individuell zusammengestellt wird. Doch die „Generation Social“ wird anders ticken – sie erwarten einfach, dass die passenden Werkzeuge zur Verfügung stehen, vernetzen sich spontan und hierarchiefrei und kommen so zu völlig neuen Ergebnissen. Diese Entwicklung wird auch den angesprochenen Mittelständler und seinen Einkäufer erreichen und verändern.
Und so muss ich sagen, dass Bernard Charles mit seiner Vision am Ende doch Recht hat und eine wirklich zukunftsweisende Vision entwickelt hat. Es wird spannend sein, zu beobachten, wie sich diese Vision in die Realität umsetzt.