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Die Titanic fährt wieder – dank Simulation von Siemens

…zumindest fährt die in den Computern bei Siemens wieder! Der folgende Artikel stammt von Chris Beves von Siemens PLM Software, Ich habe ihn vor kurzem übersetzt und fand ihn so spannend, dass ich mir die Erlaubnis zur Veröffentlichung geholt habe. Vielen Dank an Siemens und viel Spaß beim Lesen einer Geschichte, die zeigt, wie Strömungssimulation historische Ereignisse in neuem Licht erscheinen lassen kann.

Ich glaube, wir brauchen ein größeres Boot!

Man kann fragen wen man will, bei der Frage nach dem berühmtesten Schiff lautet die Antwort fast immer „Titanic“. Je nach Interessenlage und geografischer Herkunft mag es einige wenige Mitbewerber um den Titel geben, aber keines hinterließ – und hinterlässt bis heute – tieferen Eindruck im öffentlichen Bewusstsein. Im Gespräch mit Kollegen kam die Frage auf: „Hat eigentlich schon einmal jemand versucht, die Titanic zu simulieren?“ Es gibt einige Computeranimationen, aber dabei handelt es sich ja nicht um eine Simulation.

Eine kurze Internetrecherche brachte zutage, dass dies tatsächlich stimmte. Es existieren einige Handrechnungen zur Physik der Tragödie und viele Debatten über den Einfluss der Technik, beispielsweise der Kavitation am Propeller oder über das zu kleine Ruder. Mit dem heutigen Portfolio an computergestützten Simulationswerkzeugen, vor allem mit der Strömungssimulation (Computational Fluid Dynamics, ), würde es, so dachte ich, interessant sein, mit Hilfe von STAR-CCM+ auf das berühmteste aller Schiffe zurückzublicken. Was ich daraus lernte, war nicht exakt das, was ich erwartete, aber davon später.

Bild 1: Freie Oberfläche (Wellenmuster) der Titanic bei 22,5 Knoten (Alle Bilder: Siemens).

Wo beginnt man, den digitalen Zwilling der Titanic zu erzeugen? Zum Glück sind viele Zeichnungen der Titanic verfügbar, so dass es nicht schwer ist, ein 3D-Modell der Hülle zu generieren. Das ist etwas, was wir im Jahr 2017 schon lange für selbstverständlich halten, was aber für Ingenieure, Konstrukteure und Zeichner vor mehr als 100 Jahren ein ferner Traum war. Ein digitales Modell der Titanic war also schnell erzeugt.

Der erste Schritt, die Titanic nach 105 Jahren zum ersten Mal wieder schwimmen zu lassen – zumindest digital – war eine einfache Tiefgangs- und Trimmsimulation von Hülle und Ruder bei einem Tiefgang von etwa 10 Metern (der sich von der Wasserlinie bis zur Kielbasis berechnet) und einer Geschwindigkeit von 22,5 Knoten, was die wahrscheinliche letzte Geschwindigkeit war. Damit kann STAR-CCM+ genau berechnen, wie die Kräfte des Fluids auf die Titanic wirken. Mit Hilfe der Dynamic Fluid Body Interaction (DFBI) lässt sich simulieren, wie sich ihr Verhalten im Ozean durch die Geschwindigkeit ändert. Dies liefert uns einige Basiswerte über den Schub, der von den Propellern erzeugt werden muss, um den Widerstand der Schiffshülle im Wasser zu überwinden. Zudem ermöglicht es uns, das Wellenmuster rund um die Titanic zu berechnen.

Das Wellenmuster, das die Titanic auf einem glatten Ozean erzeugt, ist über ein Jahrhundert nicht mehr gesehen worden. Dank der EHP (Estimating Hull Performance)-Funktionalität in STAR-CCM+ lässt sich ein Eindruck von Bug- und Heckwelle sowie des charakteristischen Musters der Wellen auf dem Wasser gewinnen (Bild 1). Diese Simulation ergibt zudem einen Grundwert der Widerstandskraft (etwa 2.600.000 N), die von den drei Propellern am Heck überwunden werden muss.

Bild 2: Die Propeller der Titanic, von hinten in Fahrtrichtung gesehen.

Während Schnittzeichnungen der Titanic in großer Zahl zu finden sind, sind Informationen über das Propellerdesign wesentlich seltener. Das erforderte einige Tage „kriminaltechnischer Ingenieurskunst“ auf Basis der wenigen Fotos der originalen Propeller (Bild 2) und dessen Umsetzung in ein 3D-CAD-Modell. Gefolgt wurde diese Arbeit von Tests bei verschiedenen Drehzahlen und einigen Rekonfigurationen, bis jeder Propeller so viel Schub liefert, wie zur Überwindung des zuvor berechneten Widerstands notwendig ist.

Die beiden äußeren Propeller drehen sich gegenläufig „nach außen“, der mittlere Propeller ist rechtsdrehend.

Mit den wenigen verfügbaren Informationen zur Propellerdrehzahl, gelang es mir, das CFD-Modell in Balance zu bringen mit 60 U/Min für die beiden äußeren, dreiblättrigen Propeller und 160 U/min für den zentralen Vierblattpropeller. Später fand ich Informationen, die zeigten, dass ich damit sehr nah an der Realität lag. Die Animation zeigt eine Durchgangsfrequenz in jedem Blatt des zentralen Propellers, wenn diese die Blätter der äußeren Propeller oder den Kiel passieren. Dies erzeugt Spitzen im Schub, die signifikant Lärm erzeugen, der aber wahrscheinlich nur die Passagiere der dritten Klasse belästigte.

Indem wir beide Simulationen – die von Rumpf und Ruder sowie die der drei Propeller und deren Umdrehung – zusammenführen, können wir in STAR-CCM+ ein komplettes Modell aufbauen. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten:

Jede dieser Möglichkeiten ist ein Schritt zur weiteren Verfeinerung der hydrodynamischen Leistungssimulation des Schiffs, weil die Effekte von Hülle und Ruder sowie der Propeller das Verhalten des jeweils anderen Modells beeinflussen. Ich habe die erste Variante gewählt, werde aber in der Zukunft auch den anderen Ansatz verfolgen.

Bild 3: Volle Kraft voraus…

Um einen ersten Überblick zu erhalten und vielleicht einen Beitrag zu der Debatte zu leisten, rechnete ich den Ablauf des Ausweichmanövers, bei dem der Eisberg schließlich die Rumpfseite der Titanic so weit aufriss, dass sie sank. Ich arbeitete mit dem eigenständigen Propellermodell und drehte das Ruder um 35 Grad – die Berichte über den genauen Steuerwinkel schwanken zwischen 30 und 40 Grad. Bei einer Simulation laufen die Propeller auf voller Geschwindigkeit, um 22,5 Knoten Geschwindigkeit zu erzeugen, in einer zweiten Simulation laufen sie mit halber Kraft rückwärts.

… und halbe Kraft rückwärts. Ruderausschlag jeweils 35 Grad.

Der daraus resultierende Druckabfall hinter den Propellern, visualisiert in Bild 3, senkt die Seitenkraft, die das Ruder erzeugt um 30 Prozent. Die dunkelrote Druckkontur auf dem Ruder weicht einer überwiegend gelben Färbung. Die Ebene, die die Geschwindigkeit des Wassers visualisiert, zeigt sehr geringe Strömung (dunkelblau), wenn die Propeller rückwärts laufen und der Druck auf der abgewandten Seite der Propellerflügel liegt bei <-0.1 MPa (sichtbar durch die fast schwarzen Bereiche der separaten Einfärbung von Hülle und Propeller). Auch wenn die Kavitation hier vernachlässigt wird, ist es zweifelhaft, dass auch mit einem größeren Ruder ein Ausweichen vor dem Eisberg möglich gewesen wäre.

Diese ersten Ergebnisse zeigen, wie die Titanic zumindest digital wieder schwimmt, und geben erste Hinweise auf die hydrodynamischen Probleme am Ruder. Ich habe fest vor, an dieser Stelle weiterzuforschen. Welche unerwarteten Erkenntnisse ich gewonnen habe? Diese sind eher philosophischer Natur: Um in die Zukunft zu sehen, macht es manchmal Sinn, die Vergangenheit zu betrachten und aus dieser Betrachtung die Richtung des Fortschritts zu erkennen.

Wir stehen an der Morgendämmerung der vierten industriellen Revolution und bei meinem Studium einer Ikone der ersten industriellen Revolution zeigte sich, dass wir nie zuvor so schnell und so einfach Dinge entwickeln können. Meine Entwicklungszeit des Propellerdesigns von zwei Tagen ist um ein vielfaches effizienter als die von den Erbauern der Titanic. Und es zeigt sich eine gewisse Missachtung der technischen Fortschritte der Vergangenheit, nur weil sie nicht aus Kohlefaser bestehen. Sie verschwinden aus dem Blickwinkel, genauso wie die RMS Titanic, als sich der Atlantik über ihr schloss. Die einzige Konstante sind die Naturkräfte, die sich mit CFD berechnen lassen. In unserem Vorwärtsdrang sollten wir uns immer bewusst sein, dass wir in einer Zeit nicht nur der schnelleren Entwicklung, sondern auch allgemein verfügbarer Entwicklungswerkzeuge leben.

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