600 Millionen ausgegeben für ein 400-Mann-Unternehmen, das kaum jemand kennt und das in einem Bereich unterwegs ist, den man erst mal verstehen muss? Und die Siemens-Oberen freuen sich wie kleine Kinder, dass sie Firmen wie SAP und IBM zuvorgekommen sind – was hat sich Siemens dabei gedacht? Das mag sich der eine oder andere gedacht haben, als die Meldung von der Akquise von Mendix durch Siemens bekannt wurde. In den Keynotes und Interviews auf der Siemens PLM Europe wurde klar, dass Mendix nicht nur ein interessantes Unternehmen, sondern ein strategisch extrem wichtiger Baustein in der Siemens-Digitalisierungsstrategie ist.
Low-Code-Plattform, das muss man erst einmal erklären. Im Prinzip geht es darum, Softwareapplikationen nicht Zeile für Zeile zu schreiben, sondern die gewünschten Funktionen aus einer Bibliothek zu nehmen und per drag&drop miteinander zu verknüpfen. Man beschreibt die Funktionen sozusagen in Flussdiagrammen, entwirft die gewünschte Oberfläche und die Low-Code-Plattform wandelt diese Informationen in eine fertige App um. Das hat mehrere Vorteile, zu nennen sind vor allem die „Demokratisierung“ und die Beschleunigung der Softwareentwicklung.
Eines der größten Probleme in der Softwareentwicklung ist, dass der Fachmann für die Aufgabenstellung, die eine Software lösen soll, üblicherweise nicht programmieren kann. Der Programmierer wiederum ist kein Fachmann in der Aufgabenstellung. Der Programmierer interpretiert die Erklärung des Fachmanns und versucht, dies dann in Software umzusetzen. Dabei kann sehr viel falschlaufen, wie jeder Computeranwender weiß: Wichtige Funktionen sind in Menüs versteckt, Nebensächliches wird direkt angezeigt, Funktionen sind unpraktisch zu bedienen und so weiter. Mit Hilfe einer Low-Code-Plattform kann der Anwender – also der Fachmann – seine Anwendung selbst programmieren.
Mendix demokratisiert und beschleunigt die App-Entwicklung
Der zweite Aspekt ist die kürzere Entwicklungszeit. Das Verknüpfen vorgefertigter Bausteine ist effizienter als jede Funktion selbst zu entwickeln, vor allem wenn diese Bausteine nicht einfach nur „ein Button“ sind, sondern beispielsweise „eine SAP-Schnittstelle“, also sehr viel Funktionalität zusammenfassen. Nebenbei erhöht sich die Qualität der Software, wenn möglichst viel bewährter, getesteter Code weiterverwendet wird. Und nicht zuletzt sind die in Mendix entwickelten Applikationen plattformunabhängig, können also auf PCs ebenso eingesetzt werden wie auf den unterschiedlichen Mobilplattformen.
Die Bausteine, mit deren Hilfe die Apps zusammengesetzt werden, werden teils von Mendix geliefert, viele jedoch von Anwendern entwickelt und zur Verfügung gestellt. Der Hersteller eines Bausteins partizipiert dann sogar, wenn andere Unternehmen diesen Baustein nutzen. Die Bausteine bestehen aus vorkompiliertem Java-Code, es soll nicht allzu schwer sein, diese Bausteine zu programmieren. Damit wächst der Funktionsumfang der Mendix-Plattform ständig an und es ist für Siemens kein Problem, Bausteine zu entwickeln, die die eigenen Produkte von Teamcenter über NX bis hin zu Mindsphere an die Mendix-Welt anbinden.
IoT ist nichts ohne Apps – hunderttausende Apps
Stichwort Mindsphere: IoT ist nichts ohne Apps, die auf den jeweiligen Anwendungsfall abgestimmt sind. Pro IoT-Device können durchaus mehrere Apps existieren, beispielsweise eine, die lediglich Statuswerte anzeigt, eine weitere zur Bedienung der Anlage und eine dritte für den Wartungstechniker, der tiefere Eingriffe in das System vornehmen kann. So kommen Zahlen zusammen wie die auf der Siemens PLM Europe genannten „mehrere hunderttausend Applikationen“, die schon in Mendix erstellt wurden.
Mit Mindsphere hat Siemens eine IoT-Plattform, mit der sich Daten sammeln und auswerten lassen. Mendix ermöglicht es nun, Apps zu entwickeln, die die Daten aus Mindsphere darstellen und mit Daten aus anderen Quellen verknüpfen. Es ist sogar möglich, auf die Datenbanken anderer Systeme zuzugreifen und so für diese anderen Systeme Apps zu schreiben. Urban August, Senior Vice President and Managing Director für Deutschland bei Siemens Digital Industries Software, nannte im Interview als Beispiel eine SAP-App, die auf Daten des ERP-Systems zugreift, diese darstellt und von zwei Programmierern in zwei Tagen erstellt wurde.
Damit eignet sich Mendix sogar dazu, bestehende Softwaresysteme in aktuelle Plattformen einzubinden. Die Crux an der aktuellen Plattform-Philosophie – in der CAD und PLM nur Teil einer allumfassenden Softwareplattform im Unternehmen sind – ist ja, dass dies eigentlich nur funktioniert, wenn auch alle Anwendungen, Prozesse und Systeme im Unternehmen auf diese Plattform migriert oder zumindest nahtlos angebunden werden. Das erfordert in vielen Fällen einen gigantischen „Big Bang“, mit dem alle Altsysteme ab- und die Plattform angeschaltet wird. Die Ruinen solcher „Big Bangs“ stehen weltweit in der IT-Landschaft umher. Was helfen würde, wäre eine Möglichkeit, „gemischt“ mit Plattform und Altsystemen zu fahren und gleichzeitig die Daten fließen lassen zu können.
Dann könnte man Schritt für Schritt migrieren oder auch bestimmte, nicht ersetzbare Systeme oder solche, bei denen sich der Aufwand nicht lohnt, bestehen lassen und nur deren Daten anzuzapfen. Exakt dies kann Mendix nach Aussage, der Siemens-Experten leisten. Hat man beispielsweise ein altmodisches Werkzeugverwaltungssystem im Einsatz, dessen Daten man in der neuen Siemens-PLM-Umgebung nutzen möchte, kann man diese Einbindung sehr schnell über eine Mendix-App realisieren.
Mendix: Der Dietrich für alle Arten von Datensilos
Damit wiederum steht Siemens sozusagen ein „Dietrich“ für nahezu beliebige Altsysteme zur Verfügung, mit dem sich Daten aus diesen Systemen absaugen und in die Plattform einbinden lassen. Kein Wunder, dass SAP und IBM Vertriebspartnerschaften mit Mendix geschlossen haben, ein Wunder, dass sie das Unternehmen nicht kauften.
Siemens wiederum wird Mendix als eigenständiges Unternehmen weiterlaufen lassen, Siemens-Abteilungen haben auch keinen direkten Zugriff auf die Mendix-Entwickler – in den Sinne, dass sie sie abwerfen und in die eigene Organisation integrieren können. Jede Siemens-Abteilung, die die Low-Coding-Plattform nutzen möchte, muss eigenes Know-how aufbauen, so baut allein die deutsche Digital Industry Softwareabteilung eine 20 Mann starke Mendix-Abteilung auf. Damit ist sichergestellt, dass das Unternehmen weiterhin als unabhängiger Partner mit Firmen außerhalb des Siemens-Universums zusammenarbeiten kann. Einen tollen Artikel über die weiteren Hintergründe zu Mendix hat übrigens die Computerwoche veröffentlicht.
Ich hoffe, dieser Überblick enthält nicht allzu viele Fehler und hilft dem Leser, diese immer komplexere Welt zu verstehen, in die wir da gerade hineinschlittern.