Immer wieder kommt es vor, dass Schmetterlingsarten aussterben, weil sie auf eine ganz bestimmte Blumenart als Nahrung angewiesen waren und sie aus anderen Blüten nicht trinken können. Auf der Hawaii-Insel Laysan reichte die Kette noch weiter: Ausgesetzte Kaninchen fraßen die Vegetation, so dass der Eulenfalter Agrotis laysanensis ausstarb, die bevorzugte Nahrung des Laysan-Rohrsängers. Am Ende waren Falter und Vogel ausgestorben. An diese fatale Überoptimierung erinnert mich, was das neuartige Coronavirus aktuell in der Wirtschaft anrichtet: Unsere Lieferketten sind überoptimiert und deshalb extrem anfällig geworden. Daran hat auch unsere manchmal allzu enge Zuliefererstruktur Schuld.
Aktuell kommen die letzten Containerschiffe aus China in unseren Häfen an, die vor dem großen Ausbruch der Coronaviren-Epidemie losgefahren sind. In China und Europa stapeln sich volle Container, die nicht abgefertigt werden, weil die Empfängerfirmen in China geschlossen sind. Diese Container wiederum fehlen, um sie mit chinesischen Produkten zu füllen und nach Europa und in die USA zu transportieren. Als das SARS-Virus 2003 China schon einmal lahmlegte, hatte das Land laut einem Bericht im Spiegel 4,3 Prozent Anteil an der globalen Wirtschaft, heute sind es 16 Prozent. Zudem hat die Vernetzung stark zugenommen.
So ist der fein austarierte Warenumlauf durch den SARS-CoV-2-Virus aus dem Tritt geraten. Und es wird eine ganze Weile dauern, bis die Warenströme wieder Tritt fassen – es müssen ja erst einmal die Halden abgebaut werden, die sich an beiden Enden des Prozesses auftürmen.
Was ich wesentlich bedenklicher finde, ist die Abhängigkeit der westlichen Industrie von chinesischen beziehungsweise asiatischen Vorprodukten. Zwar sind wir größtenteils nicht so abhängig wie die USA, die ihre kompletten Lieferketten nach China ausgelagert hat – beispielsweise musste Apple eine Gewinnwarnung herausgeben, weil die Fertigung von iPhones bei Foxconn in China nach den verlängerten Neujahrsferien nur sehr langsam wieder anläuft.
Trotzdem sind die Verschränkungen mit China in vielen Branchen sehr eng. Ausgerechnet die Pharmabranche bezieht ihre Wirkstoffe zu mehr als 80 Prozent aus China und Indien. Das führte schon vor SARS-CoV-2 zu Medikamentenknappheit, denn viele Wirkstoffe werden nur in einem einzigen Betrieb in China oder Indien hergestellt. Ergibt sich dort das kleinste Problem, steht die gesamte Prozesskette bis zum Patienten.
Früher gab es die gute Idee der Mehrquellenbeschaffung, englisch Multiple Sourcing genannt, die bedeutet, dass man für jedes Zukaufteil und jeden Rohstoff mehrere Lieferanten hat. Inzwischen ist Single Sourcing in Mode, da bei nur einem Lieferanten die Liefermengen größer und die Rabatte höher sind. Allerdings macht man sich eben von einem Lieferanten abhängig, was in Krisen wie der Derzeitigen schnell existenzbedrohend werden kann. Zudem begünstigt das Single Sourcing große Zulieferer und sorgt dafür, dass kleinere Zulieferer, die beispielsweise die Gesamtbestellmenge eines Auftraggebers nicht liefern können, verschwinden – die Marktlandschaft wird ärmer.
Noch schwieriger wird es, wenn die Lieferanten-Kunden-Beziehung so eng wird wie zum Teil in der Automobilindustrie. Wenn der Zulieferer in den Produktentwicklungsprozess einbezogen wird und eigenständig Teile des Produkts entwickelt, kann der Kunde das Bauteil nur schwer an einen anderen Lieferanten geben. Die Abhängigkeit wird also noch größer.
Die Lehre aus der Covid-Epidemie kann nur sein, Lieferketten auf Single Points of Failure zu untersuchen und diese Punkte dann – wenn immer möglich – zu entschärfen. Oder sich eben ein entsprechendes Lager zu leisten, das mehrere Monate überbrückt.
Aber es darf einfach nicht sein, dass wichtigste Arzneiwirkstoffe weltexklusiv in irgendeiner Hinterhofklitsche in China oder Indien hergestellt werden. Wenn man den unglaublichen Aufwand kennt, den die Pharmabranche in jedem Prozessschritt für Prozesssicherheit und -Dokumentation aufwendet, ist es mir unverständlich, dass solche Lieferketten und Abhängigkeiten aufgebaut werden.
Aber auch in der diskreten Industrie sollte man sich nicht allzu sehr abhängig machen. Manche Technologien – beispielsweise im Halbleiterbereich – sind schon exklusiv in asiatischer Hand, da lässt sich das Rad kaum mehr zurückdrehen. Aber wenn es nur darum geht, preiswert an Teile zu kommen, sollten Unternehmen nicht auf einen Lieferanten und nach heutiger Erfahrung auch nicht auf ein Land setzen.
Der Coronavirus ist ja nur ein Einzelfall, der aber einen Blick auf die Anfälligkeit der aktuellen Globalisierung freigibt. Was, wenn ein Vulkanausbruch den Flugverkehr weltweit zusammenbrechen lässt? Ganz abgesehen von politischen Unwägbarkeiten – Es lohnt sich, die eigenen Lieferketten zu durchleuchten und dabei nicht nur die Kostenbrille aufzusetzen. Sonst geht es unseren Unternehmen wie dem Laysan-Rohrsänger.