Die Fraunhofer Institute sind bekannt für ihre industrienahem Forschungsvorhaben. Das folgende Beispiel hat mir sehr gut gefallen, da es zeigt, wie der vielbesprochene digitale Zwilling in der Realität genutzt werden kann, um an Erkenntnisse zu gelangen, die sonst nicht möglich wären. Zudem weisen sie einen Weg, um eine der ärgerlichsten Begleiterscheinungen bei Fräsbearbeitungen zu vermeiden: Die Bauteilschwingungen, die für unsaubere Oberflächen und hohen Werkzeugverschleiß verantwortlich sind. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT in Aachen hat erstmals gemeinsam mit Industriepartnern einen digitalen Zwilling entwickelt, mit dem sich Bauteilschwingungen bei der Fräsbearbeitung vorhersagen lassen.
Mithilfe des digitalen Zwillings können bereits während der Prozessplanung optimale Prozessparameter ausgewählt und für eine ressourcenschonendere und kosteneffizientere Produktion verwendet werden. War es bisher noch notwendig, die geeigneten Prozessparameter aufwändig manuell zu ermitteln, so lässt sich dies nun deutlich vereinfachen.
Bei der Fräsbearbeitung entstehen durch den charakteristischen unterbrochenen Schnitt sowohl am Bauteil als auch am Fräswerkzeug Schwingungen. Diese führen häufig dazu, dass die Oberfläche des Werkstücks beschädigt wird. In der Folge müssen die Bauteile zeit- und kostenintensiv nachbearbeitet werden. Hinzu kommt der hohe Werkzeugverschleiß, den die Prozessschwingungen verursachen. Dünnwandige Werkstücke, wie sie in der Luftfahrt oder auch in Leichtbau-Anwendungen vorkommen, haben ein besonders komplexes Schwingungsverhalten, das durch die Werkzeugposition und die eingesetzte Zerspankraft beeinflusst wird.
Gängige Simulationen zur Materialzerspanung bilden zwar einzelne Zwischenzustände des Werkstücks während der Zerspanung ab. Um diese Modelle zur Analyse der dynamischen Schwingungseigenschaften nutzen zu können, müssen sie aber mit unverhältnismäßig hohem Aufwand manuell bearbeitet werden.
Kontinuierliche Anpassung der Spindeldrehzahl führt zu Reduktion der Bauteilschwingungen
Ein Team des Fraunhofer IPT entwickelte im Forschungsprojekt »PhysiX-CAM« erstmals einen digitalen Zwilling zur Vorhersage des Schwingungsverhaltens von Bauteilen am Beispiel einer Blade Integrated Disk (Blisk). Mithilfe des digitalen Zwillings gelang es den Forscherinnen und Forschern, die Prozessparameter des Fräsprozesses so einzustellen, dass die Schwingungen auf ein Minimum reduziert werden. So ließen sich neue Prozessstrategien für die Fräsbearbeitung ableiten, die es ermöglichen, die Spindeldrehzahl während der Fertigung kontinuierlich und abhängig von der Werkzeugposition anzupassen und damit die Oberflächenqualität des Werkstücks deutlich zu verbessern.
Erweiterung der Multi-Dexel-Modellierung zur Simulation der Bauteilschwingungen
Im ersten Projektabschnitt untersuchten die Forscherinnen und Forscher mehrere Ansätze zur Modellierung der veränderlichen Werkstückgeometrie. Mit der Multi-Dexel-Modellierung, einer Methode zur geometrischen Modellierung und physikalischen Simulation, fand das Team eine Lösung, die eine hohe Genauigkeit bei vergleichsweise geringem Rechenaufwand bietet. Damit eignet sich die Methode besonders gut, um Modelle von Zwischengeometrien des Werkstücks, sogenannte In-Process-Workpieces (IPWs), zu erzeugen.
Eine Schwäche der Multi-Dexel-Modellierung ist jedoch, dass sich mit ihr sich nur Oberflächen- und keine kompletten Volumenkörper modellieren lassen. Für Finite- Elemente-Simulationen zur Vorhersage des Werkstück-Schwingungsverhaltens brauchte das Aachener Team aber ein solches Volumenkörpermodell. Die Forscherinnen und Forscher erweiterten deshalb mit viel Aufwand die Multi-Dexel-Modellierung und programmierten zahlreiche neue Funktionalitäten.
Nachdem sie erfolgreich die FE-Simulationen durchgeführt hatten, koppelten die Forscherinnen und Forscher diese Simulation mit der CAM-Software. Auf diese Weise schuf das Team eine voll automatisierte CAx-Software zur Ermittlung und Simulation der veränderlichen, dynamischen Werkstückeigenschaften. Darüber hinaus entwickelten sie auf Basis der Simulationen ein Stabilitätsdiagramm, mithilfe dessen sie, abhängig von Spindeldrehzahlen und Werkzeugpositionen, vorteilhafte und unvorteilhafte Bearbeitungsparameter für die Fräsbearbeitung identifizierten.
Ergebnisse der Schwingungssimulation des digitalen Zwillings im Praxistest bestätigt
Im nächsten Schritt testeten sie die Parameter in zahlreichen praktischen Zerspanuntersuchungen: Die in den praktischen Tests gemessenen Schwingungen stimmten nahezu vollständig mit den vorhergesagten überein. Aus den gewonnenen Erkenntnissen leiteten die Forscherinnen und Forscher im letzten Projektabschnitt neue Prozessstrategien für die Fräsbearbeitung ab, bei denen die Spindeldrehzahl während der Fertigung kontinuierlich und abhängig von der Werkzeugposition angepasst werden. Dies minimiert die Bauteilschwingungen.
Die entwickelte »PhysiX-CAM«-Technologie – der digitale Zwilling zur Schwingungsvorhersage – soll nach den erfolgreichen Versuchen zukünftig auch auf andere Fertigungsverfahren wie dem Drehen übertragen werden. Das Team des Fraunhofer IPT plant darüber hinaus, die Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt auch für eine optimierte Nachbearbeitung additiv gefertigter Bauteile einzusetzen. Das Forschungsprojekt »PhysiX-CAM« wurde durch Mittel des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) 2014-2020 gefördert.
Dass die neue Technologie in der Realität genutzt werden wird, dafür stehen die Partner, die im Projekt zusammenarbeiteten – in diesem Projekt war das die Aixpath GmbH, ein Spinoff des Fraunhofer IPT und der ModuleWorks GmbH. ModuleWorks wiederum ist ein Hersteller von Softwarekomponenten im CAM-Bereich, die von nahezu allen bekannten CAM-Systemanbietern in ihren Produkten genutzt werden.
Der Digitale Zwilling eines Werkstücks wird genutzt, um Schwingungsprobleme in der Fertigung in den Griff zu bekommen – genau so soll das sein, genau dafür ist der Digitale Zwilling gedacht. In dessen Datenbank findet sich eben nicht nur die Bauteilgeometrie, sondern auch die des Rohteils. Aus diesen beiden Geometrien lassen sich dann die angesprochenen Zwischengeometrien beziehungsweise IPWs generieren und für die Simulation nutzen. Für letztere liefert der digitale Zwilling viele weitere Parameter. Und wenn der Zweilling richtig aufgebaut ist, lässt sich die Bauteilgeometrie austauschen und die neuen Prozesse ermitteln die passenden Parameter für eine völlig neue und andere Geometrie. So funktioniert smarte Automatisierung!