Mixed Reality-Anwendungen, die die Sicht auf eine Maschine oder Anlage mit dem digitalen Modell verheiraten, sind nicht mehr nur Science-Fiction oder Messemagnet. Der Einsatz der Microsoft HoloLens und anderer Geräte, die Augmented Reality (AR) unterstützen, gehen in die Praxis. Das beweist unter anderem auch die in diesem Artikel beschriebene Anwendung bei der AVL List GmbH aus Graz. AVL gehört damit zu den Pionieren in der Industrie, die ihren Kunden mit AR einen Mehrwert in Verbindung mit dem eigentlichen Produkt liefern.
AVL stellt Prüfstände für die Antriebsstrangentwicklung her. Der Betreiber des Prüfstandes erhält mit dem Produkt eine umfangreiche Dokumentation, die einen reibungslosen Betrieb gewährleistet und bei Störungen schnell wieder Betriebsfähigkeit herstellt. Diese Dokumentation liegt bisher digital und in gedruckter Form vor. Die Navigation in einem gedruckten Dokument ist eingeschränkt, die Navigation im digitalen Dokument am Computerschirm ist besser, aber man ist im Feld weniger mobil und hat die Hände nicht frei. Da die Produkte langlebig sind und ständig weiterentwickelt werden, gibt es unzählige Dokumentationen zu einem Gerätetyp. Dies gilt auch innerhalb einer Kundenumgebung, was das Finden der richtigen Dokumentation zu einer Herausforderung machen kann.
Deswegen hat sich AVL entschieden, als Ergänzung zu klassischen auch eine AR-basierende Dokumentation zu liefern. Der AVL-Servicetechniker oder der Betreiber der Prüfstände verstehen durch die visuelle Unterstützung ihr Gerät besser und werden beim Serviceauftrag oder der Fehlerbehebung intuitiv geführt. Die Aufgabe kann schneller und gezielter ausgeführt werden. AVL selbst erhöht damit den Wert der Anlagen. Dieser Mehrwert und der damit verbundene Wettbewerbsvorteil durch Verbesserung der Anwendererfahrung und besserer Hilfe zur Selbsthilfe lassen sich nur schwer mit Weiterentwicklung und Optimierung der eigentlichen Produkte, also der Prüfstände, erreichen.
Das AR-Serviceangebot wertet das Dienstleistungsprodukt „jährliche Wartung“ auf, dabei ist das Wartungsgeschäft ein sehr wichtiger Baustein des AVL-Geschäftsmodells. Dieses wichtige Geschäftsfeld wird durch AR effizienter und steigert die Qualität – eine Win-Win-Situation für AVL und die Kunden. „Augmented Reality von AVL revolutioniert die User-Experience unserer Produkte und Systeme. Zudem steigert es die Effizienz unserer Prüfstandsysteme und deren Infrastruktur. Wartung und Service neu definiert!“ so Stephan Nadim, verantwortlicher Projektleiter dieses AVL-Leuchtturmprojektes.
Ein Service-Anwendung wie diese ist beim Einsatz der Microsoft HoloLens besonders produktiv. „Microsoft HoloLens ist ein völlig eigenständiger, kabelloser, holografischer Computer. Sie ermöglicht Anwendern einen Blick in die sogenannte ‚gemischte Realität‘ (Mixed Reality).“ (Quelle: Microsoft)
Mit der HoloLens lassen sich digitale Inhalte optisch mit den realen Objekten im Sichtfeld verknüpfen. Dies kann offline, ohne Internetverbindung, autark geschehen oder über eine Verbindung mit der Cloud. Mit einer Internetverbindung ist auch ein visueller und Sprachkontakt über Microsoft Teams mit einer weit entfernten Person, beispielsweise einer zentralen Servicestelle, möglich. Der Träger der Lens ist sozusagen das erweiterte Auge des zentralen Service. Eine solche Anwendung des Unternehmens Weidmüller Interface in Detmold habe ich vor einiger Zeit beschrieben.
Mit der HoloLens werden dem AVL-Geräte-Servicetechniker oder dem Techniker des Anlagenbetreibers in sieben Bereichen Hilfen und Information zur Verfügung gestellt: digitale Dokumentation, Service- und Wartungsanleitungen, Remote Support, Gebäudenavigation, Geometrie und Medienflüsse, Ersatzteile und Sensordaten. Über das Display der HoloLens hat der Servicetechniker die Möglichkeit, den Prüfstand, den er gerade sieht, mit digitaler Geometrie zu verschmelzen. Die Realität und der digitale Zwilling sind verheiratet – er versteht das Gerät besser.
Medienflüsse auch von verdeckten, beispielsweise in der Wand befindlichen Leitungen, werden mit der HoloLens in Verbindung mit AVL Augmented Reality-Software sichtbar gemacht. Die Einbausituation, die Zu- und Ableitung von benannten Medien, sind eingeblendet. Zusätzlich kann er nicht nur der Geometrie des Gerätes „unter die Haube“ schauen, sondern erhält auch Live-Zustandsdaten und wichtige Sensordaten über IoT-Technologie eingeblendet. Er versteht das Gerät, ist informiert über aktuelle Drücke oder Temperaturen und hat so Grundlagen für schnellere, fundiertere Entscheidungen.
Die klassische Dokumentation liegt somit nicht mehr ölverschmiert neben dem Gerät oder muss gesucht werden. Die digitale PDF-Dokumentation auf dem wenig portablem Werkstatt-PC oder dem unhandlichem Mobilgerät ist obsolet. Es muss auch nicht mühsam die Versions-richtige Dokumentation gesucht werden. Über die HoloLens-Optik und Vor-Ort-Geräteidentifikation stellt die AVL-Software die richtigen Dokumente digital im HoloLens-Auge zur Verfügung. Ein unschätzbarer Vorteil ist, dass die Hände des Servicetechnikers bei Nutzung der HoloLens voll verfügbar bleiben.
Dem Servicetechniker stehen Geräte- und Versions-abhängig standardisierte Wartungs- und Serviceaufgaben visuell zur Verfügung. Kein langes Suchen in einem dicken Handbuch mehr. Auch Mitarbeiter mit wenig Serviceerfahrung oder der Anlagenbetreiber selbst können ohne großen Anlernaufwand schnell die anstehenden Aufgaben erledigen.
Sollte keine der Standardprozeduren aus der AR-Bibliothek passen oder bei kniffligen Anwendungsfällen kann Remotesupports in Anspruch genommen werden. Mit Microsoft Dynamics 365 Remote Assist kann sich der Spezialist bei AVL in Graz über Microsoft Teams auf die HoloLens des Technikers vor Ort schalten. Er sieht, was der Techniker sieht, kann ihn beraten und bei Bedarf über die HoloLens digitale Informationen wie Videos und Bilder zur Verfügung stellen.
Ist der Anlagenfehler erkannt und die Behebung oder die Wartungsaufgabe in Arbeit, benötigt man möglicherweise das eine oder andere Ersatzteil. Die Identifizierung und Bestellung werden auf einfachste Art und Weise visuell unterstützt.
Sich zurecht finden in einer Anlage ist besonders für den ortsfremden AVL-Techniker schwer. Dies wird ihm mit der Möglichkeit, visuell durch ein großes Prüfcenter zum Serviceort geführt zu werden, erleichtert.
Augmented Reality-Anwendungen sind ideale Brückentechnologien, um verschiedenste Bereiche, hier den Service mit der Dokumentation der Anlagen- und Gerätekonstruktion zu verbinden. Aber auch Vertrieb und Marketing, die Ausbildung der Servicetechniker, die Fertigung und Montage können von einer AR-Anwendung profitieren.
Die hier vorgestellte Anwendung wurde von AVL selbst erstellt. Das Ziel dabei war, flexibler bei Erfüllung der spezifischen AVL Anforderungen und im gesamten Lebenszyklus zu sein. Die AVL Augmented Reality-Zukunft ist schon jetzt.
Mixed Reality-Anwendungen und geeignete Endgeräte wie die HoloLens werden zunehmend Papier und das digitale Papier (PDF) ersetzen. Die Zeit ist reif, diese Steinzeit-Technologien jetzt schon mit besserer Visualisierung und Anwender-Führung zu ergänzen. AR für die industrielle Anwendung werden sich ihrem Weg bahnen!