Gestern hatte ich ein längeres Gespräch mit Christoph Bruns, Experte in statistischer 3D-Toleranzanalyse und GPS & Product Manager Simulation bei Inneo, über das Thema ISO GPS. In vielen Konstruktionsabteilungen ist GPS so etwas wie der weiße Elefant, der im Raum steht, über den aber niemand sprechen möchte. Dabei überwiegen die Vorteile von GPS auf lange Sicht – und technisch gesehen ist die 3D-Toleranzdefinition schon lange überfällig. Bruns sieht großes Interesse am Thema: „Bei Inneo sind die GPS-Workshops aktuell das am meisten nachgefragte Schulungsangebot, die Firmen haben großen Handlungsdruck, sich in diesem Bereich weiterzubilden.“ Doch um was geht es überhaupt?
Vor dem Siegeszug von 3D-CAD war die technische Zeichnung die genaue, vollständige Beschreibung eines Bauteils, einer Baugruppe oder eines ganzen Produkts. In der Zeichnung fanden sich alle Informationen, die zu Fertigung und Montage des Produkts notwendig waren, von der Geometrie über Maße und weitere Informationen bis hin zu Stücklisten. Die Zeichnung wurde vervielfältigt und auf Papier an alle Beteiligten verteilt. In Kunden-Lieferanten-Beziehungen war – und ist – die Zeichnung ein Bestandteil des Vertrags und für beide Seiten verbindlich.
Mit dem Siegeszug der Digitalisierung und des 3D-CAD begann eine seltsame Übergangsphase, die in vielen Bereichen bis heute andauert: Einerseits werden Maschinen bis zum letzten Sprengring dreidimensional konstruiert und modelliert. Diese Daten dienen als Fertigungsgrundlage, beispielsweise im CAM-System für die NC-Programmierung. In der Montage stehen längst Terminals für die Anzeige von 3D-Daten bereit. Andererseits wird die Zeichnung nach wie vor erstellt, allerdings oft in vereinfachter Form, um Form- und Lagetoleranzen, Anmerkungen, Oberflächenzeichen, Schweißdefinitionen und vieles andere zu definieren. Und schließlich wurde bis heute kein adäquater, fälschungssicherer Ersatz für eine Zeichnung – ob auf Papier oder in Form von PDF-A – gefunden, wenn es um Verträge geht.
Das hatte und hat handfeste Gründe: CAD-Systeme konnten lange am 3D-Modell keine Zusatzinformationen anbringen, CAD-Dateien sind schwierig lesbar, wenn es über Systemgrenzen hinweggeht. Da war die Zeichnung einfach handlich und praktisch. Doch je weiter die Digitalisierung um sich greift, je nahtloser die Datenströme laufen sollen, desto mehr ist die Zeichnung ein Hindernis, weil sie eben nicht maschinenlesbar ist.
Die ISO GPS-Normierung ist dabei nicht einmal etwas Neues, die alten Zöpfe im Bereich der Toleranzdefinition wachsen einfach sehr lange und immer weiter. Dabei sind manche Paradigmen, die sich einbürgerten, um Zeichnungen verständlicher zu machen, heute eher hinderlich. Ein gutes Beispiel ist die Sitte, alle gleichgerichteten Maße von einer Kante aus zu vermaßen. Oft ist diese Kante im Blick auf die Toleranzen völlig irrelevant – beispielsweise müssen zwei nebeneinanderliegende Befestigungsbohrungen zueinander viel stärker stimmen als in Bezug auf irgendeine Kante. Für die Messtechnik ist eine solche Zeichnung fast nutzlos – also muss für die Qualitätssicherung in vielen Fällen eine eigene Zeichnung angefertigt werden, oder die QS-Mitarbeiter versuchen, ihre wichtigen Maße anhand der Zeichnung selbst zu bestimmen, was wiederum zu Irrtümern und Rückfragen führt.
Was ist also gefordert? Fertigungs- und funktionsgerechte Bemaßung, maschinenlesbare und standardisierte Zusatzinformationen – und all das am 3D-Modell definiert. Das leistet GPS, wenn es richtig umgesetzt wird. Damit ist GPS:
- die Grundlage für vernetzte, digitale Prozesse
- eine Beschreibung aller Produkteigenschaften aus einem Guss und in einem Medium
- eine Voraussetzung für die Automatisierung von Prozessen und schließlich
- der Lieferant für Entscheidungsparameter, die cyberphysikalische Systeme für ihre Arbeit brauchen.
Dank GPS lassen sich beispielsweise messtechnische Prüfungen von mehreren Tagen auf wenige Stunden beschleunigen – einfach, weil alle Daten verfügbar, maschinenlesbar und damit für die Automatisierung direkt nutzbar sind. In besonderem Maße profitieren Softwarewerkzeuge wie das Toleranzanalysesystem Cetol 6 Sigma von digital verfügbaren Produktspezifikationen – auch hier entfällt die mühsame und fehleranfällige Dateneingabe fast komplett. Zumal die 3D-Toleranzanalyse ein hervorragendes Hilfsmittel ist, um die Funktion und Qualität von Produkten vorherzusagen und den Konstrukteur im Verständnis zu GPS zu schulen und zu unterstützen.
Allerdings erfordert GPS ein Umdenken, das Erlernen neuer Symbole, Techniken und Prozesse und einen Umstellungswillen der Konstrukteure. Zudem werden die ISO GPS-Normen ständig weiterentwickelt. Dazu bietet unter anderem Inneo Webinare an, eines davon hält Christoph Bruns am 03. April 2023 gemeinsam mit seinem Kollegen Jörg Lohmeyer unter der Überschrift „Neuerungen in den ISO-GPS-Normen: Insights aus den Normenausschüssen für Anwender.“ Die Kurzbeschreibung lautet:
Mit der Einführung der ISO-GPS Norm 22081 sind ältere Normen wie die ISO 2768 T2 nicht mehr gültig. Erfahren Sie im Webinar, welche konkreten Schritte nun notwendig sind, um Ihre Konstruktion und Entwicklung auf den aktuellen Stand zu bringen.
An ISO GPS führt kein Weg vorbei. Die großen Konzerne und OEMs werden über kurz oder lang keine Daten mehr annehmen, die die neuen Normen nicht erfüllen und dann wird GPS die Lieferkette hinab bis zum kleinsten Lohnfertiger gelangen. Da ist es sicher besser, sich frühzeitig mit dem Thema zu befassen.