Der Gaia-X Summit 2024 in Helsinki war das fünfte Jahrestreffen der europäischen Initiative für interoperable, vertrauenswürdige Datenräume und mit mehr als 600 Besucher*innen aus über 40 Ländern das bislang größte. Das digitale europäische Ökosystem wächst stetig, musste aber mit dem Aus von Agdatahub auch einen herben Rückschlag verschmerzen. Der Datenraums für die französischen Landwirte war einer der wenigen im produktiven Einsatz.
Was Gaia-X genau ist, lässt sich immer noch schwerer erklären als das, was Gaia-X nicht ist, nämlich Europas Super-Cloud. Es war auch nie das Ziel, direkt mit den großen amerikanischen oder asiatischen Hyperscalern in Konkurrenz zu treten, wie Chief Executive Officer (CEO) Ulrich Ahle betont. Vielmehr soll die von der Europäischen Union vorangetriebene Initiative, der weltweit inzwischen 335 Mitgliedsfirmen angehören, die rechtlichen, technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen für ein vertrauenswürdiges digitales Ökosystem schaffen, in dem die Teilnehmer Daten und Dienste austauschen beziehungsweise teilen können, ohne auf ihre Datenhoheit verzichten zu müssen. Ziel ist es, Millionen von Beteiligten, die sich nicht kennen müssen, das Teilen beziehungsweise Austauschen von Daten zu ermöglichen.
Es ging nie darum, eine zentrale europäische Cloud-Infrastruktur aufzubauen. Im Gegenteil: Der Ansatz von Gaia-X ist radikal dezentral, sowohl was den Aufbau der einzelnen Datenräume als auch was ihr Zusammenspiel anbelangt. Die gemeinsam mit der International Data Space Association (IDSA) konzipierte Architektur sieht vor, die Daten über die Datenräume zu referenzieren, statt sie in einen Data Lake zu pumpen. Das schließt allerdings nicht aus, dass sie für bestimmte Anwendungsfälle in einer zentralen Cloud-Plattform zusammengeführt werden, wie Catherine Jestin, die Vorstandsvorsitzende der Gaia-X Europäischen Vereinigung für Daten und Cloud, in der Pressekonferenz zum Auftakt der Veranstaltung sagte. Allerdings sei das eine Entscheidung, die nicht Gaia-X, sondern die Teilnehmer des jeweiligen Datenraums treffen müssten.
Erstes Clearing-House außerhalb von Europa
Gaia-X habe viel Papier erzeugt, sei aber keineswegs ein Papiertiger, wie die mehr als 150 Data Space-Implementierungen beweisen, antwortete Ahle auf die Frage eines Journalisten, der ein häufig zu hörendes Vorurteil kolportierte. Die beiden wichtigsten Dokumente für den Aufbau des Trust-Frameworks sind das Architektur-Dokument, das die semantische und technische Dimension der Interoperabilität beschreibt, und das Compliance-Dokument, das die legalen und organisatorischen Aspekte festlegt. Basierend auf diesen Spezifikationen hat Gaia-X eine OpenSource-Software entwickelt, die den Prozess der Identifizierung und das Onboarding vereinheitlicht und automatisiert. Dazu muss sie bei einem so genannten Clearing-House implementiert werden, das den Zugang zu einem oder mehreren Data Spaces kontrolliert.
Derzeit gibt es zehn operative Clearing-Houses, darunter die beiden Newcomer Proximus und Neusta Aerospace sowie mit NTT Data das erste Clearing-House außerhalb von Europa, in Japan. Zwar gibt es dort noch keinen Data Space, aber das japanische Clearing-House spielt eine wichtige Rolle als eine Art Notar, der anhand der dort geltenden Gesetze die Identität von nicht-europäischen Teilnehmern und die Erfüllung weiterer Zugangskriterien verifiziert und gegenüber den anderen Clearing-Houses beglaubigt. Die Akzeptanz des Trust-Frameworks außerhalb Europas sei wichtig, weil viele Endanwender global unterwegs seien, betonte Ahle.
Auf dem diesjährigen Summit wurde die neue Loire-Release der Software für die Clearing-Houses vorgestellt, die den Prozess der Identifizierung und Zertifizierung der Teilnehmer ausdifferenziert. Chief Technology Officer Christoph Strnadl beschreibt den wesentlichen Unterschied: In der Vorgängerversion konnte sich ein Cloud-Betreiber selbst bescheinigen, dass er beispielsweise nach ISO 9001 zertifiziert ist. In Loire ist vorgesehen, dass er für Label 2 oder 3 einen Nachweis von einer Zertifizierungsstelle vorgelegen muss, entweder direkt in elektronischer Form oder als PDF-Dokument, das dann von einer notariellen Autorität elektronisch beglaubigt werden muss. Label 3, die höchste Sicherheitsstufe legt zum Beispiel fest, dass ein Cloud-Betreiber mehrheitlich in europäischer Hand sein muss oder dass die Daten ein bestimmtes Land nicht verlassen dürfen, was etwa für Unternehmen der Nuklearindustrie relevant ist.
Politische Rückendeckung für Gaia-X
Gaia-X ist als Initiative der Europäischen Kommission entstanden und wird politisch gehätschelt, wie die Tatsache beweist, dass die finnische Ministerin für Transport und Kommunikation Lulu Ranne die Teilnehmer*innen des Summit höchstpersönlich begrüßte. Robert Habeck, der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, meldete sich per Video-Botschaft zu Wort, und Benjamin Brake, Abteilungsleiter Digital- und Datenpolitik im Bundesministerium für Digitales und Verkehr unterstrich im Auftrag von Bundesminister Volker Wissing die Bedeutung der Digitalpolitik für die Wettbewerbsfähigkeit Europas.
Anschließend erläuterte Ernst Stöckl-Pukall, Abteilungsleiter Digitalisierung und Industrie 4.0 in Habecks Ministerium die Vorzüge einer föderierten digitalen Cloud-Edge-Infrastruktur mit verschiedenen Providern, das im Rahmen der 8ra-Initiative für ein souveränes Cloud-Edge Continuum entstehen soll – ein weiteres Großprojekt der EU mit einem Volumen von insgesamt 7,8 Milliarden Euro. Das Trust-Framework von Gaia-X würde in diesem verteilten Netz beispielsweise die Aufgabe übernehmen, die Services der Edge-Geräte zu zertifizieren und sicherzustellen, dass sie die erforderliche Sicherheitsstufe haben, wie Roland Fadrany, Chief Operation Officer von Gaia-X im Interview erläuterte.
2,3 Milliarden Europa haben die Europäische Kommission und die Mitgliedsstaaten der EU bislang in Gaia-X und den Aufbau der verschiedenen Datenräume Euro gesteckt, wie Ahle bei der Vorstellung der Roadmap sagte. Derzeit gibt es 16 Lighthouse-Projekte mit mehr als 150 Data Spaces, die sich fast alle noch in der Entwicklung befinden. Einige davon stellten sich in Helsinki vor, darunter die Data Spaces Merlot und Prometheus-X für die den Erziehungsbereich, der Media Data Space oder der Data Space Omega-X für die französischen Energieversorger.
Wachsendens Netz von Datenräumen
Catena-X ist nach dem Aus von Agdatahub der einzige operative Data Space. Einige andere sind aber schon voll funktionsfähig oder stehen kurz vor dem Produktivstart, wie Pontus-X. Das von der DeltaDAO AG orchestrierte Ökosystem unterscheidet sich von anderen Datenräumen darin, dass es weder auf eine bestimmte Branche, noch auf einen Anwendungsfall fokussiert ist. Wesentlicher Bestandteil von Pontus-X ist ein Marktplatz, auf dem Daten- und Datenservices gehandelt werden können, wie Frederic Schwill, Co-Gründer des Hamburger Unternehmens erläutert. Einer solcher Service kann beispielsweise ein Software-Algorithmus sein, der die Betriebsdaten eines Maschinenherstellers vor Ort analysiert, so dass sie nicht das Unternehmen verlassen müssen (Compute to Data).
Die entstehenden Datenräume sind geographisch sehr unterschiedlich verteilt, was damit zusammenhängt, dass Gaia-X in einigen Ländern früher Fuß gefasst hat und politisch stärker gefördert wird. Gaia-X kündigte in Helsinki die Gründung von drei neuen Hubs in Norwegen, Dänemark und der Schweiz an. Finnland hat hingegen schon eine sehr aktive Community mit über 30 Datenräumen in 15 verschiedenen Branchen, wie Ville Sirviö, CEO des Nordic Institute for Interoperability Solutions (NIIS) und des finnischen Gaia-X Hubs betonte, die als Mitausrichter des Summits fungierten. Sehr interessant ist etwa der Data Space für den Hafen Oulu, in dem das Be- und Entladen von einlaufenden Schiffen optimiert werden kann, um den CO2-Ausstoß zu senken.
Spanien ist eines der Länder, das neben Deutschland und Frankreich am meisten Geld in den Aufbau von Data Spaces steckt – insgesamt 500 Millionen Euro, wie Francisca Rubio, General Managerin des spanischen Gaia-X Hubs sagte. Derzeit entstehen dort 90 kleinere Data Spaces – jeweils 20 im Gesundheitsbereich, in Landwirtschaft und Mobilität. Der spanische Hub unterstützt die Projekte und dafür sorgt, dass die Data Spaces trotz der Nutzung unterschiedlicher Technologien interoperabel bleiben. Im Unterschied zu Deutschland, wo größere Lighthouse-Projekte wie Manufacturing-X gestartet und dann in Teilprojekte unterteilt werden, verfolgen die Spanier einen Bottom-up-Ansatz und wollen ihre Data Spaces im zweiten Schritt zu Leuchttürmen zusammenfassen. Bleibt abzuwarten, welcher Ansatz erfolgreicher ist.
Tragfähiges Businessmodell erforderlich
Die Data Spaces interoperabel zu halten, ist eine der Herausforderungen für Gaia-X in den nächsten Jahren, wie Klaus Ottradovetz, Chairman des Technical Committees sagte. Eine zweite ist, ihre Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten und damit die Investitionen zu schützen. Der Konkurs von Agdatahub hat auf dramatische Weise deutlich gemacht, dass die Orchestratoren, die die Data Spaces unternehmerisch betreiben, ein tragfähiges Geschäftsmodell haben müssen. Und das Ökosystem braucht Auffangmechanismen, um ihren Ausfall abfedern zu können, wie Ahle einräumt. Gaia-X habe sich in den letzten Jahren auf die technischen und legalen Aspekte konzentriert und müsse dem Thema Wirtschaftlichkeit künftig mehr Aufmerksamkeit schenken.
Die Grundlagen für ein besseres Verständnis der ökonomischen Aspekte legt eine Studie über die Economics des Data Sharings, die der Lehrstuhl für Governance und Regulierung der Universität Paris-Dauphine im Auftrag des Gaia-X Instituts erstellt hat und die am zweiten Tag der Veranstaltung präsentiert wurde. Sie unterstreicht die kritische Rolle der Orchestratoren für die Daten-Ökosysteme, die Teil der Wertschöpfungskette sein können oder nicht, allerdings ohne zu genau spezifizieren, welche Business-Modelle den meisten Erfolg versprechen. Das hängt auch damit zusammen, dass sie im Zuge der Entwicklung der Anwendungsfälle variieren können.
Unterstützung bei der Definition der Anwendungsfälle und Business-Modelle bietet außerdem die Blaupause des Data Space Support Centres (DSSC), die im Partner Theater des Summits vorgestellt wurde. Die modular aufgebaute Vorlage umfasst neben technischen auch organisatorische und Business-Bausteine für den Aufbau von Datenräumen. Sie sollen einen schnelleren Start ermöglichen, die Investitionen schützen und Synergien zwischen den Datenräumen heben. Man darf gespannt darauf sein, wie viele Datenräume im nächsten Jahr produktiv sein werden, wenn sich die Gaia-X-Community im portugiesischen Porto wiedertrifft.